Text: Gabriel Proedl Mitarbeit: Nvard Hovhannisyan & Armine Grigoryan Fotos: Manuel Stark
Auf vielen alten Landkarten bildet Berg Ararat den Mittelpunkt der Welt. Wer auf dem Gipfel steht, 5130 Meter über dem Meeresspiegel, sieht bei klarem Wetter 250 Kilometer in alle Richtungen. Nach Georgien, in die Türkei, den Iran und Aserbaidschan. Dazwischen das kleinste Land am Kaukasus: Armenien. Seine Einwohnerinnen nennen den Ausblick vom Ararat den „Blick auf die Welt“. Denn für sie ist der Berg noch immer ihr Mittelpunkt.
Sechzig Kilometer Luftlinie vom Gipfel entfernt liegt Jerewan, Hauptstadt Armeniens. Neue Wohnungen mit Blick auf das Gebirge sind unbezahlbar. Wohlhabende Diaspora-Armenierinnen mieten sich Suiten für ihren jährlichen Aufenthalt – während des restlichen Jahres stehen die Wohnungen leer. In einem Neubau auf einer Anhöhe neben der Stadt sind nur zwei der neun Apartments mit Ararat-Blick dauerhaft bewohnt. Eine Bewohnerin ist Syusan Karapetyan, pensionierte Französisch-Lehrerin. Die Wohnung bezahlt ihre Tochter. „Nach ihrem Geschmack ist hier auch alles eingerichtet“, sagt sie entschuldigend, als würde sie um Verständnis bitten, dass sie den Stil der Tochter für den täglichen Blick auf den Berg in Kauf nimmt. Die schwarzen Ledersofas sind mit gehäkelten Schondecken bezogen, auf dem Fensterbrett stehen Blumen, so makellos, als seien sie aus Plastik. Eine Designerlampe in schwarzgefärbtem Glas erhellt den Raum. Mehrere Schichten eines schweren Vorhangs verhängen das Panoramafenster zum Ararat. „Wir machen sie eigentlich nie auf, die Sonne würde zu stark blenden“, sagt Karapetyan.
An dreihundert Tagen im Jahr verdeckt ihn ohnehin Nebel. Meist im Frühsommer, wenn der Abend kühl ist, reißt am Morgen die Wolkendecke auf und öffnet den Blick auf das Gebirge: Rechts, der große Gipfel, den die Armenierinnen Masis nennen. Ein ruhender Vulkan, zuletzt 1840 ausgebrochen, mit einer abgeflachten Spitze, die einen mächtigen Krater vermuten lässt. Daneben, der zweite Gipfel, genannt Sis, etwa 1200 Meter niedriger, aber dennoch fast ganzjährig mit Schnee bedeckt. Neben seiner großen Schwester sieht der Berg, der symmetrisch wie eine Pyramide zur Spitze zuläuft, lächerlich klein aus.
Familie Karapetyan öffnet die Vorhänge der Bühne selten. Nur manchmal, in der Früh, wenn sie gemeinsam aus der Bibel lesen, ein Ritual. Die Bibel liegt auch untertags auf einem Beistelltisch, aufgeschlagen an der Seite der Lesung des Tages.
Die wichtigste Stelle für die armenische Geschichte ist längst überblättert: die Erzählung über Noah, der nach der Sintflut mit seiner Arche auf armenischem Boden gestrandet sein soll und Urvater des Volkes ist. Am Anfang der Bibel, im ersten Buch Mose, Genesis 8,4 steht geschrieben: „Am siebzehnten Tag des siebenten Monats setzte die Arche im Gebirge Ararat auf.“ Die Meinung vieler Theologen, dass es sich dabei gar nicht um den Berg, sondern um das Reich Urartu handelte, das sich damals über das gesamte kaukasische Gebiet erstreckte, wollen die Armenierinnen nicht hören.
Zahlreiche internationale Expeditionen hatten den Fund der Arche zum Ziel. 1955 fand der französische Alpinist Fernand Navarra mit seinem Sohn ein eineinhalb Meter langes Stück Holz. 2010 entdeckte ein chinesisches Team ein Stück Zypressenholz, das man auf 4800 Jahre schätzte. Beide Funde stellten sich als Fälschungen heraus.
Dennoch ist für die meisten klar: Noah ist am Berg gestrandet. Noah ist Armenier. 94 Prozent der Bevölkerung sind Christinnen, in keinem anderen Land der Welt gehört ein so hoher Teil aller Einwohnerinnen offiziell einer einzigen Kirche an. Auch für David Ayvazyan hat der Berg vor allem wegen Noah eine große Bedeutung. Seinen Sohn hat er Hayassa genannt, wie den Enkel Noahs. Er selbst lebt in der Nähe von Margara, einem armenischen Dorf direkt an der türkischen Grenze. Nie hat er woanders gelebt. Der Siebzigjährige sieht aus, wie Bilderbuchautorinnen Noah schildern würden: grauweißes Haar und Bart, die Augen etwas eingefallen, die Schultern hängen, als hätte er eine große Last zu tragen. Er lehnt im Türrahmen seines kleinen Hauses und schaut auf die Maulbeerbäume im Garten und isst unreife Aprikosen – eine Delikatesse, wie er verspricht. „Aprikosen sind die Droge fürs Herz“.
Oft steht er an dieser Schwelle und denkt über seinen Tod nach. „Ich will nicht sterben, ehe ich nicht auf der Spitze des Berges gestanden habe“, sagt er, „Gott und ich, wir haben da eine Vereinbarung. Sonst wäre ich doch schon längst tot.“ 1965 hat er sich geschworen, den Ararat zu besteigen. Aber nicht als Tourist, sondern als Armenier. Seine Eltern stammen aus Westarmenien und wurden von Türken vertrieben.
Bis zum Völkermord durch die Türken im Jahr 1915 besaß Armenien große Teile der sechs Ostprovinzen des osmanischen Reiches. Eines davon war der Ararat. 1921 teilten die Türkei und die Sowjetunion diese Gebiete untereinander auf. Die Gebiete um den Ararat waren wirtschaftlich uninteressant, doch die Türkei erkannte den ideellen Wert des heiligen Berges und beanspruchte ihn für sich. Ein kluger Schachzug, der eine tiefe Wunde in die kulturelle Identität der Armenierinnen schlug: Jeden Tag werden sie mit dem Blick auf den Berg erinnert, wie übermächtig ihre türkischen Nachbarn sind.
David Ayvazyan kennt die Geschichte auswendig. Zumindest die armenische Sicht der Dinge. Mehrmals in der Woche geht er an die Grenze und erzählt russischen Soldaten, die das Grenzgebiet sichern, durch den Zaun, warum der Ararat zu Armenien gehöre und dass er alles dafür tun werde, ihn zurückzubekommen. „Niemand kann uns den Ararat nehmen. Meine Eltern haben mir das Leben geschenkt, ich werde ihnen den Berg schenken“, sagt er. Die Grenze zur Türkei ist geschlossen, niemand darf sie passieren. Auch große Teile des Ararat sind militärisches Sperrgebiet.
Ayvazyan ist das egal. Seinen Bart hat er seit seinem Schwur 1965 nicht mehr gestutzt. Er will am Gipfel stehen, die Armenische Flagge schwenken und seinen Bart im Schnee vergraben. Er will in den Schnee schreiben, dass das Land armenisches Land ist und niemand auf der Welt den Armenierinnen den Ararat nehmen kann. Dann will er sterben.
„Der große russische Dichter Alexander Puschkin war acht Tage in Margara, weil er den Ararat sehen wollte. Es war aber immer nebelig, er musste wieder zurück nach Russland, ohne ihn auch nur einmal zu Gesicht bekommen zu haben“, sagt er. Auch er schreibt Gedichte über seinen heiligen Berg.
Vor ein paar Jahren hat ihm der Bürgermeister das schönste Geschenk gemacht: Ein Garten im armenischen Grenzschutzgebiet. Drei Mal in der Woche darf er die Grenze passieren und dem Berg ein paar hundert Meter näherkommen. Dann trennt ihn vom Ararat nur der Grenzfluss Araks, in dem sein Großvater geangelt hat. In den Garten hat er nur einen Stuhl und einen Tisch unter einen Apfelbaum gestellt. Der Blick auf den Ararat genügt ihm.
Nicht alle Armenierinnen haben den Ararat je gesehen, obwohl er das Wahrzeichen des Landes ist. Als Eugeme Filatova, geborene Russin mit armenischen Wurzeln, im Alter von 34 Jahren zum ersten Mal ihr Heimatland besuchte, stellte sie fest, dass zahlreiche Kinder ihre Dörfer noch nie verlassen hatten. Filatova bekam Mitleid mit ihnen und war nach ihrer Abreise nach Moskau von so starkem Heimweh geplagt, dass sie zurückkam. „Als hätte ich meine Bestimmung gefunden“, sagt sie. Mittlerweile ist sie nach Jerewan gezogen, hat ihren studierenden Sohn in Moskau zurückgelassen und eine neue Existenz aufgebaut. Sie lebt in einer kleinen Wohnung, hat eine Halbtagesstelle bei einem Tourismus-Magazin und lebt für ihr Projekt, arme Kinder zum Ararat zu bringen. Ein paar Reisen hat sie schon veranstaltet, hat fünfzehn Kinder aus der nahe gelegenen Stadt Gjumri mit dem Autobus zu einer Aussichtsstelle gefahren. „Auf dem Weg haben die Kinder laut gesungen, ‚der Ararat ist unser Berg’, aber als wir dann tatsächlich vor ihm standen, sind sie verstummt und haben einfach nur gestaunt.“ Weil Geld fehlt, hat sie seit längerem keine Reise mehr veranstalten können. Doch über Facebook, die Lokalzeitung und mit Hilfe eines Pfarrers hat sie über mehrere Monate endlich die 180 Euro zusammenbekommen, die eine Gruppenreise dorthin kostet.
Auch das Wappen Armeniens zeigt die markante Silhouette des Ararat. Zu Sowjetzeiten kam aus Ankara einst der Vorwurf, man dürfe Armenien keinesfalls erlauben, einen Berg für ein Wappen zu vereinnahmen, der gar nicht dem Land gehöre. Der damalige sowjetische Außenminister Andrei Gromyko konterte: Die Türkei solle vorsichtig mit solchen Anschuldigungen sein, wenn die eigene Flagge Teile des Mondes abbilde.
Das Gebirge Ararat blieb Teil des Wappens, eine Komposition der Natur, die viele Maler inspirierte. Die bekanntesten Gemälde hängen in der Nationalgalerie von Jerewan, besonders prominent ausgestellt ist jenes von Iwan Aiwasowski, dem großen Sohn Armeniens. Die Leiterin der Abteilung, Avine Duzdabanyan, hält es für das wichtigste Werk der Kunstgeschichte. „Vielleicht bin ich als Armenierin aber nicht objektiv genug“, gibt sie zu. Weil viele russische Besucher Fotos mit ihr machen wollen, ist sie stets adrett gekleidet: hohe schwarze Schuhe und ein Pünktchenkleid, rosaroter Lippenstift und lange Ohrringe. So, wie manch russischer Besucher für sie zu schwärmen scheint, so schwärmt sie für den Ararat in der armenischen Kunst. Am speziellsten sei das Licht, sagt sie, nirgends auf der Welt gäbe es innerhalb eines Tages so viele verschiedene Rottöne zu sehen. Auch deshalb glaubt sie, der Ararat sei der meistgemalte Berg der Welt. Sie selbst hat erst in der Schule gelernt, dass er nicht zu Armenien gehört: „Wenn du auf die Straße gehst und fragst, was der höchste Berg im Lande ist, werden dir die Menschen ‚Ararat’ zurufen, noch bevor du deine Frage beendet hast.“
Ob sie die Anekdote von Puschkin kennt, die der Bilderbuchnoah von Margara erzählt hat? Dass er acht Tage dort war um den Ararat zu sehen, ihn aber nie zu Gesicht bekommen hat? Ja, die kennt sie. Allerdings sei er nie in Margara gewesen. „Da war der Stolz des Mannes wohl wichtiger als die Wahrheit“, sagt sie, „Puschkin war in Gjumri, der zweitgrößten Stadt, und er hat den Ararat gesehen. So schreibt er zumindest. Aber er muss ihn mit dem Aragaz verwechselt haben, den Ararat von Gjumri aus zu sehen, ist nämlich unmöglich“.
Ob sie auch auf den Berg will, von dem sie täglich spricht? „Nein, um Himmelswillen, auf keinen Fall!“ Sie zupft nervös an ihrem Kleid und streicht ihre Haare hinter die Ohren. Als hätte sie ein Geständnis gemacht, das mit der Vorstellung vieler Armenier nicht vereinbar ist. Sie entschuldige sich, sagt sie, sie habe Höhenangst.
Aber auch sie ziehe es auf den Berg, zumindest in Gedanken: „Es ist wie eine magische Kraft, die dich nicht loslässt, wenn du in diesem Land geboren wirst.“ Sie habe auch mit vielen Türkinnen und Kurdinnen gesprochen. Ihnen sei der Berg vollkommen egal.
Wenn der russische Dichter Ossip Mendelstam also glaubt, er habe „einen sechsten Sinn entwickelt, den Ararat-Sinn, den Sinn des Hingezogenseins zu einem Berg“, dann kann er noch nie in Armenien gewesen sein. Ansonsten würde er nicht behaupten, er sei es gewesen, der ihn entwickelt habe. Mit diesem Sinn werden Armenierinnen geboren. Auch Davit Alaverdyan, der schon als Kind davon geträumt hat, ihn zu besteigen. „Ich bin mit meinen Freunden zusammengesessen und habe gesagt: Wenn wir groß sind, dann klettern wir da rauf!“ Jetzt ist er 45 Jahre alt, Chefredakteur einer angesehenen Nachrichtenagentur in Jerewan und einer der wenigen Menschen Armeniens, die den „Blick auf die Welt“ kennen. Vor knapp zwanzig Jahren hat er begonnen, seine Reise zu planen. Er schrieb mehrere Briefe an das türkische Außenministerium und bat um Sondererlaubnis, den Berg zu besteigen. Beantwortet wurden die Briefe jeweils vom Verteidigungsministerium: Absagen mit der Begründung, es handle sich um militärische Sperrgebiete, die nicht wegen einer Freizeitaktivität aufgehoben werden können. „Im Jahr 2008, also acht Jahre später nach meinem ersten Brief, bekam ich die Zusage. Ein Jahr danach im August, wagte ich mit ein paar Freunden und acht kurdischen Guides den Aufstieg.“
Er galt lange Zeit als unmöglich, Marco Polo war sich in seinen Berichten sogar sicher, dass nie ein Mensch den Berg je besteigen wird. 1829 war es der deutsche Naturforscher Friedrich Parrot, der im Dienste Russlands als erster den Gipfel erreichte.
Alaverdyan erzählt gerne von seinen Abenteuern. „Wie früher haben auch uns Pferde beim Tragen des Gepäckes geholfen“, sagt er. „Allerdings nur bis 4000 Meter, dann wird es richtig anstrengend.“ Weil ab dann innerhalb kurzer Zeit viele Höhenmeter zurückgelegt werden können, muss man sich bremsen. Sonst kann sich die Lunge nicht daran gewöhnen, dass die Luft immer dünner wird. „Am letzten Tag mussten einige aufgeben. Aber unter Alpinisten gibt es die Regel, dass wenn Teile der Gruppe den Gipfelsturm schaffen, es die ganze Gruppe geschafft hat. So sind wir um vier Uhr am Morgen mit Taschenlampen losgezogen. Am Gipfel hatten wir nur zehn Minuten Zeit, weil ein Sturmtief drohte. Der Nebel lag tief und es begann zu schneien. Wir wollten noch in Richtung Jerewan unseren Familien zuwinken, aber wir konnten die Stadt nicht sehen. Ich muss deshalb wieder hinauf, möglichst bald.“
Ob der Ararat auf türkischem oder armenischem Gebiet liegt, ist ihm nicht so wichtig. Für ihn sind Grenzen menschengemacht, doch das Herz sei das, was zählt. Dennoch wünscht er jedem Armenier einmal im Leben den Blick auf die Welt.
Die Geschichte hinter der Geschichte
Auf seiner ersten Auslandsrecherche lernte Gabriel Proedl, dass er als Reporter ohne die Landessprache zu sprechen ausgeliefert ist – auch sein Englisch oder Französisch half ihm selten. Für jede Kleinigkeit musste eine Übersetzerin organisiert werden, und selbst dann gab es manchmal Interpretationsprobleme. An der türkischen Grenze fragte er nach einer ruppigen Antwort des Grenzsoldaten seine Übersetzerin: „Warum hat er so böse geantwortet? Habe ich eine falsche Frage gestellt?“ Diese wusste gar nicht, was er meinte und antwortete nur: „Er hat ganz normal geantwortet – die Menschen hier haben manchmal eben ein anderes Temperament als in Österreich.“
Hinweis:
Das generische Femininum gilt gleichermaßen für alle Geschlechter. Um der Lesbarkeit willen wird auf die gleichzeitige Verwendung männlicher und weiblicher Sprachformen verzichtet.