Revolution am Grenzzaun

Armenien ist seit der „samtenen“ Revolution im vergangenen Jahr im Umbruch – zumindest in der Hauptstadt Jerewan. An der türkischen Grenze hingegen stand die Zeit still – bis die Lehrerin Lilit Sargsyan im Dorf aufkreuzte

Text und Fotos: Anina Ritscher Mitarbeit: Nuard Hovhannisyan

Lilit Sargsyan sitzt an einem viel zu kleinen Tisch auf einem viel zu kleinen Stuhl. Sie schiebt bunte Zettel mit armenischen Buchstaben umher, um Worte zu bilden. Die drei Kinder am Tisch, sechs und sieben Jahre alt, hören ihr aufmerksam zu.

„Nenne mir ein Nomen“, sagt Sargsyan zu einem der Mädchen.

„Der Mann.“

„Und jetzt beschreibe: Wie ist ein Mann?“

„Ein Mann kann schwere Steine tragen.“

Sargsyan neigt den Kopf zur Seite und runzelt die Stirn. „Ich kann auch schwere Steine tragen“, sagt sie und zieht die Augenbrauen hoch. Das Mädchen lacht Sargsyan verlegen an. Feminismus, Lektion eins.

Der blassrosa Putz blättert von den Wänden des Klassenzimmers. Die Türklinke ist abgebrochen. In einer Ecke steht ein hölzerner Rechenrahmen. Lilit Sargsyan passt mit ihren hippen Sneakers und dem wilden Haar in das Klassenbild wie ein Graffito in einen Rembrandt.

Lilit Sargsyan liest mit den Schulkindern auch die armenische Verfassung. Das ist ungewöhnlich.

Sie ist geboren und aufgewachsen in der armenischen Hauptstadt Jerewan. Dort brach im Frühling 2018 eine Revolution aus: Der korrupte Präsident musste zurücktreten, das Parlament wurde neugewählt und kriminelle Generäle festgenommen. Die Proteste blieben bis zum Ende gewaltfrei. Deswegen sprechen Medien und AnhängerInnen von einer „samtenen Revolution“.

Im Dorf Anipemza aber, zwei Stunden von Jerewan entfernt, merkt man von diesen Umwälzungen erstmal nichts. Hier scheint die Zeit seit Jahrzehnten still zu stehen: Direkt am Dorfeingang steht ein Schild mit Sichel-und-Hammer-Emblem. Auf der Bühne des ehemaligen Kulturzentrums hängt eine riesige sowjetische Armenienflagge mit einem Bild von Lenin.

Getrieben vom Willen, etwas zu bewegen, bewarb sich Lilit Sargsyan 2017 bei der Organisation „Teach for Armenia“ – „Unterrichten für Armenien“. Sie schickt junge, gut ausgebildete Menschen für zwei Jahre an abgelegene Landschulen, wo ohne sie Unterrichtsstunden wegen Lehrermangel ausfallen würden. Die StipendiatInnen nennen sich „Changemakers“. Sie sollen nicht nur unterrichten, sondern die neue Zeit aufs Land bringen. Auch hier hin, in den Raum mit dem abblätternden Putz, in dem Sargsyan auf einem Kinderstuhl sitzt.

In der Schule lebt die bürokratische Genauigkeit der Sowjetbeamten weiter. Um über die Schule zu berichten, müssen wir, die Reporterin und die Übersetzerin, ganz zu Anfang unseres Besuchs bei der Direktorin vorsprechen. Hasmik Nazaryan sitzt am Ende des Raums an einem Schreibtisch und zitiert uns zu sich. Mit strengem Blick hört sie sich an, wer wir sind und was wir wollen. Dann weist sie uns an, auf einem roten Sofa in der Ecke Platz zu nehmen. Wir warten einige Minuten und sehen ihr zu, wie sie ein Blatt zur Seite schiebt. Ein anderes vor sich legt. Kurz angestrengt liest. Dann winkt sie uns wieder zu sich. Mit einem Nicken und einigen ermahnenden Sätzen gestattet sie uns, über die Schule zu berichten. Die Direktorin einer Schule mit 28 SchülerInnen nimmt ihr Amt ernst.

Das Schulhaus befindet sich nur fünfzig Meter vom Grenzzaun entfernt.

Um dreizehn Uhr beendet Sargsyan die Stunde für die Mittagspause. Die Schulkinder laufen zum Esszimmer. Lilit Sargsyan tritt hinaus auf den Schulhof. Ein zwei Meter hoher Stacheldrahtzaun führt direkt am Hof entlang. Er grenzt das ganze Dorf von dem Landstrich auf der anderen Seite ab, der einst von ArmenierInnen besiedelt worden war und heute zur türkischen Republik gehört. Von 1915 bis 1917 deportierten und töteten Soldaten des osmanischen Reichs mehrere hunderttausend ArmenierInnen. Die türkische Regierung erkennt das bis heute nicht als Völkermord an. Niemand darf die Grenze überqueren, außer die Grenzsoldaten.

Sargsyans SchülerInnen wachsen wenige Meter vom Grenzfluss Akhuryan entfernt auf, können aber nie darin baden gehen. Wenn ein Fußball über den Zaun fliegt, müssen die Kinder warten, bis ein Grenzsoldat sich erbarmt und ihn zurückkickt. Und die Männer im Dorf können nicht im Fluss angeln. Der Zaun macht etwas mit den Menschen: Sie leben in einem ständigen Gefühl, bedroht zu sein und sich verteidigen zu müssen. Ein besonders nationalistisches Mädchen in Sargsyans Klasse möchte unbedingt in den Krieg ziehen – egal gegen wen. Und eine ältere Bewohnerin ist froh über den Zaun, weil er sie vor den TürkInnen schütze. Der Verlust des Landes und die Erinnerung an den Genozid sitzen hier tiefer, als im weltoffenen Jerewan. 

„Der Verlust des Landes und die Erinnerung an den Genozid sitzen hier tiefer, als im weltoffenen Jerewan.“

Der Boden unter Sargsyans Füßen ist staubig und braun. Links markiert ein Tuffsteinbruch das Ende des Dorfs. Anipemza wurde 1926 für die Arbeiter im Steinbruch gebaut. Sargsyan läuft an der alten Arbeiterkantine vorbei – heute steht sie leer und alle Scheiben sind kaputt. Die meisten jungen Menschen verlassen Anipemza, sobald sie können.

Früher war das Gehalt der Minenarbeiter hoch und das Geschäft mit dem Tuffstein gut. Zu beiden Seiten des Wegs, der zu Sargsyans Haus führt, stehen zweistöckige Mehrfamilienhäuser aus Tuffstein und zeugen vom vergangenen Wohlstand. Die Häuser sind symmetrisch angeordnet, haben großzügige Eingänge und Fenster. An einigen prangt ein Balkon. Architekten vermuten, Anipemza wurde vom selben Architekten gebaut, wie Jerewan. Heute wohnen hier, laut den DorfbewohnerInnen, nur noch hundertfünfzig Menschen. Die Minibus-Verbindung nach Jerewan wurde im vergangenen Jahr eingestellt, erzählt Sargsyan, weil der Fahrer gestorben war. Auch Einwohner, die ihr ganzes Leben in Anipemza verbracht haben, träumen von einem Leben in der Stadt.

Lilit Sargsyan hat in ihrer Wohnung kein fließend Wasser.

Sargsyan steigt drei Steinstufen hoch zu einer himmelblauen Tür und schließt auf. Das einzige Fenster ihrer Ein-Zimmer-Wohnung ist mit einem Teppich verhangen, um vor der Hitze zu schützen. Auf einem Tisch steht eine Gaslampe, in einer Ecke ein schmales Bett. Sargsyan kocht Wasser in einer kleinen Ecke, die sie als Küche nutzt, und verteilt es in Tassen. Dann schüttet sie weißes Fertigkaffee-Pulver aus Beuteln rein.

Statt eines Wasserhahns hängt an der Wand ein Trog mit einem kleinen Loch unten und einem Becken darunter. Fließend Wasser oder ein Badezimmer hat Sargsyan nicht. Trinkwasser kauft sie von einem Wasserlaster. Wasser zum Bewässern wird zwei Mal pro Woche nach Anipemza geleitet. Wenn Sargsyan duschen möchte, geht sie zu ihrer Nachbarin im Haus nebenan, vorbei an Zimmern voller Gerümpel und einem Bügeleisen auf dem Flur. Früher wohnten auf dem Stockwerk sechs Familien, heute ist nur noch ein Ehepaar geblieben.

In Jerewan führte Sargsyan ein Leben, wie es Menschen Mitte Zwanzig in einer Großstadt eben tun: Sie arbeitete als Journalistin fürs Fernsehen, hatte viele Freunde, ging abends aus. „Ich genoss mein Leben“, sagt sie. An das entbehrungsreiche Leben auf dem Land musste sie sich erst gewöhnen. Sie musste sich immer wieder sagen: „Wenn diese Menschen ihr Leben lang hier wohnen, dann bin auch ich nicht zu fein dafür.“ In einem Monat wird Sargsyan zurück nach Jerewan ziehen, dann läuft ihr Stipendium aus.

Als sie neu im Dorf war, stieß Sargsyan auf Skepsis. Die BewohnerInnen verstanden nicht, warum sie herzog – denn die meisten wollen weg. An ihrem ersten Tag im Dorf suchte Sargsyan eine Wohnung. Ohne Erfolg. Niemand im Dorf hat ihr weitergeholfen. An diesem Tag saß sie heulend an der Hauptstraße. Die LehrerInnen an der Schule waren pikiert, dass sie Hilfe aus der Hauptstadt bekamen. Und noch dazu von einer, die ganz andere Vorstellungen von gutem Unterricht hat. „Diese Menschen haben eine sowjetische Einstellung zu Bildung und geben akademisches Wissen weiter“, sagt Sargsyan. Sie hingegen wolle die Kinder auf das Leben vorbereiten und nimmt zum Beispiel die armenische Verfassung durch, was ungewöhnlich ist.

10 Jahre wurde an der Schule kein Englisch unterrichtet. Es gab zu wenig Lehrpersonen.

15 Uhr, Sargsyan muss zurück zur Schule. Bevor sie aufbricht, klopfen drei Jugendliche an die Tür. In der Hand des einen: Eine Tüte voll mit Eis am Stiel. Die Schulkinder waren die ersten, die Sargsyan im Dorf angenommen haben. Als sie neu eingezogen war, machten Kinder vor ihrer Haustüre jeden Tag Lärm. Sie wollten testen, wie der Neuankömmling reagiert, sie aus dem Haus locken – was ihnen meistens gelang. Und so näherten sie sich langsam an. «Dann fing die romantische Phase an», sagt Sargsyan. Jeden Morgen vor der Schule holte ein anderes Kind sie von ihrer Wohnung ab. Mit Schokolade oder einem Blumenstrauss. Einmal mit einem Büschel Gras. Wegen der Kinder ist Sargsyan in Anipemza geblieben.

Neben der Tür, auf einem kleinen Tisch, liegt die erste Ausgabe des «PemzaBlog», einer Zeitung, die Sargsyan mit den Schulkindern gegründet hat. Die Kinder schreiben darin, was in ihrem Dorf passiert. Zum Beispiel, dass der Fußballplatz erneuert wird. Online führen sie den Blog regelmäßig weiter. „Ich möchte den Kindern zeigen, dass sie selbst verantwortlich sind für ihre Umgebung. Dass sie diesen Ort besser machen können, wenn sie möchten“, sagt Sargsyan und schließt ihre Haustür ab.

An der Hauptstraße steht ein rostiges Karussell, das sich nur noch schwer dreht. Eine Gruppe Schulkinder spart gerade Geld, um die Geräte auf dem Spielplatz zu reparieren. Und eine Straße weiter, im alten Kulturzentrum haben ein paar Jungen einen Fitnessraum mit Seilen und Gewichten eingerichtet. Sargsyan ist ein Vorbild für die Schulkinder. Während der Revolution fuhr sie jeden Tag nach der Schule zurück nach Jerewan, um zu protestieren. Die Schulkinder von Anipemza machten es ihr nach und blockierten die Hauptstraße nach Gjumri.

Im Kulturzentrum wurden während der Sowjetzeit regelmäßig Theaterstücke aufgeführt. Jetzt ist es meistens leer.

Sargsyan läuft die staubige Straße von ihrem Haus zurück zur Schule. An einer Hausmauer sitzt jetzt ein Grenzsoldat und telefoniert. Sargsyan spricht oft mit ihren SchülerInnen darüber, was die Grenze, was Krieg und Hass bedeuten: Väter und Brüder, die an die Front gehen und vielleicht nie wieder zurückkehren. Der Unterricht bewegt etwas: Eine Schülerin brachte vor kurzem ein selbstgemaltes Bild mit. Darauf stand: „Krieg ist schlecht. Krieg ist traurig.“ Das Bild hängt jetzt im Klassenzimmer. Und in einer anderen Unterrichtsstunde stand dieselbe Schülerin unvermittelt auf und verkündete: „Wir sollten keine Türken töten!“

Heute Nachmittag sind Proben für ein Theaterstück, die Sargsyan leitet. Auf dem Weg schleicht ein kleiner Schwarm Jugendlicher hinter ihr her.

Die Geschichte hinter der Geschichte

Während ihrer Recherche an der Schule von Anipemza wurde Anina ins Lehrerzimmer gerufen. Dort erwartete sie eine gedeckte Tafel mit Kuchen und Kaffee, vorbereitet von den Schüler*innen. Die Direktorin versicherte der Reporterin: Die Tafel sei Teil des regulären Lehrplans, die Kinder lernen das Vorbereiten eines solchen Gedecks. Die armenische Journalistin und Übersetzerin Nuard Hovhannisyan wies Anina später daraufhin, dass das Buffet wohl eher der Versuch sei, die ausländische Reporterin zu beeindrucken.

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