Schachnovelle auf Armenisch

Schach in Armenien ist wie Fußball in Brasilien – eine Obsession. Auf Geldscheinen, in Schulen, im Fernsehen, überall Schach. Warum die Armenier dem Spiel der Könige so verfallen sind wie keine andere Nation.

Text: Alexander Rupflin Mitarbeit: Armine Grigoryan Fotos: Manuel Stark

Mein größter Fehler war Springer g4. Jedenfalls behauptete der Junge mit den großen Augen, er habe keine Sekunde an seinem Sieg gezweifelt. Alberto machte den Eindruck, als würde er die Stunde, in der wir uns gegenüber saßen, bald vergessen. Die anderen drei Jungs beachteten uns nicht. Der Ausgang der Partie musste ihnen klar gewesen sein. Alberto gab mir die Hand und schaute an mir vorbei.

Der einzige Sport, den ich jemals mit Ehrgeiz betrieben habe, war Schach. Naturgemäß zeige ich als Deutscher kein großes Talent. Die Deutschen haben im Schach nie viel gerissen, was daran liegen mag, dass wir für dieses Spiel zu pragmatisch sind. Schach ist schließlich die größte Vergeudung von Zeit und Intellekt, die man sich vorstellen kann. Für so etwas haben wir keinen Nerv.

Die Armenier scheinen mir idealistischer zu sein. Bei ihnen ist Schach Nationalsport und für Kinder Schulfach. Vom 2000-Dram-Geldschein blickt Schachweltmeister Tigran Petrosjan, die Alten spielen Schach im Park. Schach läuft im Fernsehen. Schach wird in Zeitungen kommentiert. Es gibt Schachhäuser, Schachbars, Schacholympiaden.

Zum ersten Mal vom Schachwahn der Armenier hörte ich, als Levon Aronian den Schachsuperstar Magnus Carlsen besiegt hatte. In Armenien könne er in kein Taxi steigen, erzählt Aronian, ohne dass der Fahrer die letzte Partie mit ihm analysieren will.

Ich stellte mir vor, wie sich Armenier im Schatten der Aprikosenbäume dem Spiel der Könige hingeben. Woher diese Obsession eines Volkes für etwas so Feinsinniges?

Als ich dann erfuhr, dass im Städtchen Tsaghkadzor eine Schach-Konferenz geplant war, die bezweckte, Schach weltweit zum Schulfach zu machen, war das Grund genug, nach Armenien zu reisen.

1.c2-c4 c7-c5 2.Sb1-c3 Sb8-c6 3.g2-g3 g7-g6 4.Lf1-g2 Lf8-g7 5.e2-e3 Sg8-h6 6.Sg1-e2 Sh6-f5 7.d2-d4 c5-d4x

Drei Tage lang besprachen die Teilnehmer der Konferenz, wie sie Schach in Schulen bringen könnten.

Das Multi-Rest-House Hotel, in dem die Tagung stattfand, gehört dem armenischen Oligarchen Gagik Tsarukyan. Am Eingang standen mehrere große Blumenarrangements aus Plastik und der Portier in portier-roter Uniform tippte pausenlos auf seinem iPhone herum. Aus mehr als zwanzig Ländern waren Männer angereist in Anzügen, die zu viele Falten warfen und fast ebenso viele Frauen.

Mit einer Serie aus Balken-, Kurven- und Kreisdiagrammen bestätigten sich die Referenten, dass Schachspieler die besseren Menschen sind und alle waren sich einig: Kinder, die Schach lernen, werden klüger, empathischer, geistreicher als der unverspielte Rest. Bei Schülern steigere sich die Fähigkeit, Gefühle und Gedanken anderer Menschen zu lesen, um 28 Prozent. Auch die Kreativität entwickele sich deutlich überdurchschnittlich. Der Spanier Leontxo Gracia ließ sich gar zu der Aussage hinreisen, dass es Präsidenten wie Donald Trump nicht geben würde, wenn mehr Menschen auf der Welt Schach spielten.

Mir war gleich Smbat Lputjan aufgefallen, der Einzige, dessen Anzug perfekt saß. Lputjan ist Schach-Großmeister und Leiter der Schachakademie – der armenischen Kaderschmiede. Seine aufrechte Körperhaltung war die eines Mannes, der Ideen vom Himmel pflückt. Gleich vier Mal versuchte ich, ihn in ein Gespräch zu verwickeln, mit müder Handbewegung wehrte er mich jedes Mal ab. Er habe heute wirklich keine Zeit. Immerhin verabredeten wir uns für ein Treffen in sechs Tagen.

Obwohl in der Lobby des Hotels mehrere Schachbretter standen, wollte niemand gegen mich spielen.

8.e3-d4x Sc6-d4x 9.Se2-d4x Sf5-d4x 10.O-O O-O 11.Lc1-e3 Sd4-c6 12.Ta1-c1 d7-d6 13.Dd1-d2 Lc8-e6 14.b2-b3 Dd8-a5

Am Rande der Konferenz lernte ich den Künstler Zack Demirchyan und den Drehbuchautor Armen Mouradian kennen. Die beiden hatten ihren Schach-Trickfilm vorgestellt. Wir verließen die Tagung und gingen zusammen Barbecue essen. Zack bestellte uns eine Flasche russischen Wodka. Mit seiner Halbglatze und der getönten Brille sah er aus wie ein gut gelaunter Mallorca-Tourist, der zu viel Zeit an der Hotel-Bar verbracht hatte. Er erzählte mir, dass Schach mehr als nur Teil des armenischen Lebens sei: „Wir haben das im Blut, das ist eine Art Religion.“ Armen Mouradian pflichtete ihm bei: „Wenn du einem armenischen Baby die Wahl zwischen Mutterbrust und Schachbrett gibst, entscheidet es sich immer für Schach.“

Wir bestellten eine zweite Flasche Wodka und beschlossen, das Infiniti zu besuchen – die einzige Bar, die wir im Umkreis mehrerer Kilometer auf Google-Maps finden konnten. Das Infiniti erwies sich als Stripclub. Wir waren die einzigen Gäste und bald saß eine der Tänzerinnen auf meinem Schoß. Sie trug langes blondgefärbtes Haar und ihr Parfum roch gut. Sie war sehr warm und ihre Haut seidenpapierzart. Elegant und kaum spürbar hockte sie auf meinem Oberschenkel. Ich war betrunken und hatte gleich Gefühle für sie.

„Findest du es nicht komisch, dass wir uns so kennenlernen?“, fragte ich.

„Wieso?“

„Ich soll dafür zahlen, dass wir uns unterhalten.“

„Das ist in Armenien normal“, sagte sie, zuckte mit den Schultern und lächelte mich an.

„Spielst du Schach?“, wollte ich wissen.

Anstatt zu antworten, fragte sie, woher ich komme. Ich sagte es ihr und erklärte, dass ich auf der Suche nach einem armenischen Schachtalent sei, um es zu besiegen. Doch für den armenischen Nationalsport schien sich hier niemand zu begeistern, sie erzählte, dass sie mal in Deutschland studiert hätte und jetzt Geld spare, um ein Business im Tourismussektor zu eröffnen, denn Armenien sei im Aufbruch. Dann kam eine ältere Dame und behauptete, unsere Gesprächszeit sei abgelaufen.

15.Tc1-c2 Le6-f5 16.Tc2-c1 Tf8-d8 17.Tf1-d1 Sc6-e5 18.Sc3-d5 Da5-d2x 19.Td1-d2x Td8-d7 20.h2-h3 h7-h5 21.f2-f4 Se5-c6

Schach ist in armenischen Schulen ein Pflichtfach – und die Kinder lieben es.

Inzwischen war ich seit vier Tagen in Armenien und hatte noch keine Partie gespielt. Ich beschloss, eine armenische Schule zu besuchen. Seit 2012 lernt jedes Kind in der Grundschule Schach. In die Wege geleitet hatte diese Bildungsreform der mittlerweile abgesetzte Staatspräsident Sersche Sargsjan. Man hat ihm Korruption vorgeworfen. Nach wie vor aber ist er Vorsitzender des armenischen Schachbunds, die Schachspieler halten ihm die Treue. Er hat ein großes Ziel: Irgendwann, da soll es in Armenien keinen Schachanalphabeten mehr geben. Schach als Markenzeichen eines Landes im Wandel. Armenien hat 43 Großmeister und 35 Internationale Meister 2006, 2008 und 2012 gewann das Männerteam bei der Schacholympiade Gold.

Was ich in der Schule erlebte, berührte mich tief. Noch nie hatte ich so vom Unterricht begeisterte Kinder beobachtet. Sie saßen Schulter an Schulter in einem Klassenzimmer ohne Tageslichtprojektor, Beamer oder Whiteboard. Kein WiFi, keine Laptops, keine grünen Sitzbälle. Dafür der Geruch feuchter Wände und eine Magnettafel mit Schachbrettmuster.

Zuerst lasen die Kinder in ihrem Schulbuch über die Schachlegende Paul Morphy. Dann sollte einer der Schüler eine Partie auf der Magnettafel nachbauen. Die Klasse musste herausfinden, wie Morphy seinen Gegner in zwei Zügen matt gesetzt hatte. Erst herrschte Regungslosigkeit, dann stand die erste Schülerin auf und meldete sich und kurz darauf stand die ganze Klasse, Hände wedelten, als würden die Kinder nach Fliegen schlagen, kein Mucks zu hören. Die Lehrerin wählte einen der Schüler aus, der seinen Lösungsvorschlag an der Tafel präsentierte. So ging das die ganze Stunde.

Nach dem Unterricht bat ich die Lehrerin, gegen ihre stärkste Schülerin spielen zu dürften. Sie stellte mir die zehnjährige Sofia vor. Sofia war sehr still und wollte sich nicht wirklich mit mir unterhalten, also führten wir unser Zwiegespräch auf dem Schachbrett. Das Schöne am Schach ist ja: man kommuniziert miteinander, ohne reden zu müssen. Eine Sprache aus 64 Feldern und 32 Figuren. Zugegeben, keine sonderlich freundliche Sprache, sondern eine des Streits, sehr ich-bezogen.

Sofia hatte keine Chance. Zwei Mal übersah sie, dass ich ihre Figuren gefesselt hatte. Dann war es vorbei. Ihre Lehrerin kommentierte: „Siehst du, Schach ist ein emotionaler Sport. Du musstest grinsen, weil du einer Zehnjährigen die Dame geschlagen hast.“

22.a2-a3 Ta8-c8 23.b3-b4 e7-e6 24.Sd5-c3 Sc6-e7 25.Le3-a7x Tc8-a8 26.La7-d4 Ta8-a3x 27.Ld4-g7x Kg8-g7x 28.Kg1-h2 Se7-c8

Großmeister Smbat Lputijan hält dem abgesetzte Staatspräsident Sersche Sargsjan die Treue.

Endlich traf ich Großmeister Smbat Lputjan. Der Mann trug ein geradezu heiliges Lächeln auf seinen Lippen. Er führte mich durch die Hallen der Schachakademie und gab Kindern en passant Schachweisheiten mit auf den Weg: „Schach bedeutet Ruhe und Konzentration.“ „Schach ist Kampf.“

Er flüsterte mir zu: „All diese Kinder lieben es, zu denken.“

Ich fragte ihn, was Schach für ein Volk bedeute, das sich ständig im Krieg befunden, einen Genozid und die Sowjetunion erlitten hatte. Er antwortete: „Seit 1994 sage ich, wir müssen dieses Land fördern. Ich war der Einzige, der die Probleme erkannte. Ich sagte, Schach ist ein ehrliches Spiel. Die Kinder lernen, ehrlich zu sein. Sie lernen gewinnen und verlieren. Sie lernen, sich Gedanken zu machen, zu analysieren.“

„Es geht also nicht um das Spiel an sich?“

„Unsere nächste Generation wird sehr schlau sein. Armenien wird ein Land denkender Bürger sein“, sagte er und sah mir ernst in die Augen.

Dann präsentierte er eine seiner größten Nachwuchshoffnungen: Alberto. Neun Jahre, schmächtig, unendliche Wimpern. Der Junge könne einmal Weltmeister werden. Ich hatte meinen Gegner gefunden!

Wir verabredeten uns für eine Partie in drei Tagen. Bis dahin wollte ich trainieren. Lputjan erklärte sich dazu bereit, der zweite Sparringspartner auf meiner Reise zu sein. Der Kampf in seinem Büro war schonungslos und dauerte zwei Minuten.

29.Lg2-e4 Lf5-e4x 30.Sc3-e4x Ta3-a8 31.c4-c5 d6-d5 32.h3-h4 Ta8-a4 33.Tc1-b1 Ta4-a3 34.Tb1-b2 Ta3-e3 35.Se4-g5 f7-f6

Um vor meiner Partie gegen Alberto noch tiefer in die schachgetriebene Denkweise der Armenier vorzudringen, traf ich die Schriftsteller Edward Militonyan und Albert Nalbandyan. Während Edward fortwährend durch seine prächtige Zahnlücke grinste, strahlte Albert die Aura eines Generals im Ruhestand aus. Im Gebäude des armenischen Autorenverbands erklärten sie mir, worin die Poesie im Schach liege.

„Erst erkennst du nicht, wie es weitergehen soll, also denkst du nach. Das ist Poetik“, sagte Edward.

Albert erwiderte: „Jedes Wort hat eine Ordnung. Beim Schreiben musst du über die Ordnung der Dinge nachdenken, wie beim Schach. Das Magische sind die unendlichen Kombinationen.“

„Eigentlich besteht Schach aus drei Dingen: Wissenschaft, Sport und Kunst. All das stärkt den Charakter der Armenier“, sagte Edward.

 „Du lernst, logisch zu denken und fällst auf deinem Lebensweg die richtigen Entscheidungen“, sagte Albert noch und überreichte mir ein Buch über den armenischen Star Lewon Aronjan. Es sei auf russisch, aber allein, wenn ich die darin zitierten Partien nachspiele, könne ich viel über Schach und Armenien lernen.

36.Sg5-h3 e6-e5 37.f4-e5x f6-e5x 38.Td2-f2 d5-d4 39.Sh3-g5 Td7-e7 40.b4-b5 e5-e4 41.Tf2-f4 d4-d3 42.Kh2-g2 Te3-e1 43.Kg2-f2 Te1-c1 44.Sg5-e4x Tc1-c2

Alberto ist eine der größten Nachwuchshoffnungen. In einigen Jahren will er Weltmeister werden.

Schließlich saßen Alberto und ich uns gegenüber. Mit uns im Klassenzimmer der Schachakademie drei weitere Schachtalente und der Lehrer. Ich fühlte mich gut vorbereitet. Andererseits trainiert Alberto täglich. Zwei Mal die Woche in der Schule, drei Mal die Woche in der Schachakademie, drei Mal die Woche mit einem Privattrainer. Für den Trainer geben die Eltern ein halbes Vermögen aus. Obwohl Albertos Vater Richter ist und die Mutter Ärztin, lebt die Familie am Rand der Hauptstadt Jerewan in einem bescheidenen Häuschen mit zwei Räumen. Ein Kinderzimmer für Alberto und seine Schwester gibt es nicht. Der ganze Stolz der Familie steht in einer Vitrine – Albertos Pokale.

Ich eröffne Englisch. Ziehe den Bauer von c2 auf c4. Alberto macht es mir mit Schwarz nach, und auf den 64 Feldern begegnen sich unsere Gedanken. Sie sind gegeneinander gerichtet, wir formulieren sie in unterschiedlicher Sprache und doch kommunizieren wir miteinander, ein Tanz eigener Ordnung – Schach spielt man, wenn man die Raumzeit um sich vergisst.

Alberto schaut selten aufs Brett, hat die Partie im Kopf. Der Lehrer hat mir gerade noch verraten, dass der Junge fünfzehn Züge vorausdenke – und das sei seine Schwäche. Andere Spieler in diesem Alter rechnen eine ganze Partie zu Ende. Alberto gleiche das mit Kreativität, Intuition und einem starken Verständnis für Logik aus.

Das bekomme ich zu spüren. Nur wenn ich von dem Schwarz-Weiß vor mir aufsehe und da dieses Bübchen sitzt, das auf seinem Stuhl zappelt, gähnt, sich immer wieder durchs Haar fährt, plötzlich aufs Klo verschwindet, da wird mir bewusst, dass ich gegen einen Neunjährigen spiele.

Er ist mir überlegen, eindeutig, lange aber glaube ich, mithalten zu können.

Dann spiele ich Springer g4.

Die Geschichte hinter der Geschichte

Viele haben Angst davor, bei der Auslandsreportage ihrem Anspruch, das Land zu erklären, nicht gerecht zu werden. Ein unerfüllbarer Anspruch. Ich reiste einfach neugierig nach Armenien. Ich war Reisender. Das war alles. Natürlich kann ich mit dieser Haltung nicht jedes Thema in einer fremden Region erforschen. Das muss ich auch nicht. Jedes Land hat fähige Journalisten, die genau wissen, wie die Menschen vor Ort ticken. Meinen Kommentar brauchen sie nicht. Ich war der Deutsche, der dem fremden Takt gelauscht hat.

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