Syrische Braunbären sind stark gefährdet. In Armenien fristen viele ein jämmerliches Dasein, in Restaurants, Hotels oder in Privatzoos. So wie Bärendame Dasha. Zehn Jahre war sie in einem winzigen Käfig eingesperrt, bis Tierschützer sie befreiten.
Text und Fotos: Tim Kalvelage
Schnaubend dreht sich Dasha in der metallenen Transportbox einmal um die eigene Achse. Mit kräftigen, von hellbraunem Fell bedeckten Tatzen scharrt sie im Stroh und krallt sich an die Gitterklappe. Durch die Metallstreben blickt sie auf eine Wiese, gesäumt von Büschen und wilden Apfelbäumen mit rosa Blüten. Dahinter ragt eine karge, grün-braune Bergkulisse auf. Ein schmaler Fluss plätschert durchs Tal. Zwei weitere Metallkisten stehen neben Dasha, durch die Gitter strecken sich leise brummend zwei kleine Bärenschnauzen: Sohn Luka und Tochter Coco. Die Bären können ihre Mutter nicht sehen, aber riechen und hören. Dashas Rufe nach ihren Jungen klingen wie die Laute des zotteligen Chewbacca aus Star Wars.
Drei Ranger in khakifarbenen Uniformen mit dem Logo des Wildlife Rescue Center klettern auf die Boxen und entsichern die Gitter. Alle anderen – Wildhüter, Tierschützer und Presseleute – sitzen in einem Fahrzeug oder stehen auf der Ladefläche eines Lasters. Außer Reichweite von Dasha, die gut 200 Kilogramm auf die Waage bringt. Niemand weiß, wie sie sich verhalten wird, wenn sich die Kisten öffnen. Wird sie mit ihrem Nachwuchs fliehen oder angreifen?
Dann ist der Moment gekommen, den vor eineinhalb Jahren niemand für möglich gehalten hätte. „Alle bereit?“ ruft Ruben Khachatryan von der Ladefläche des Lasters. Sekunden später ziehen die drei Ranger die Gitterklappen nach oben und bringen sich mit einem Satz auf die Ladefläche in Sicherheit.
Mai 2019, ein Tag vor der Auswilderung, gut sechzig Kilometer südöstlich der armenischen Hauptstadt Jerewan: Im Freigehege des Wildlife Rescue Center lässt sich Dasha die Nachmittagssonne auf den Pelz scheinen. Ihr Fell glänzt goldgelb. Sie hat ein waches Auge auf ihren Nachwuchs. Coco, die etwas heller ist als der schokobraune Luka, zupft wenige Meter entfernt genüsslich ein paar Grasbüscheln und Kräuter. Ihr Bruder plantscht mit seinen Tatzen in einer Pfütze. Das 5000 Quadratmeter große Gehege entspricht dem natürlichen Habitat der Bären. Sie können über Felsen und auf Baumstämme klettern, im Teich baden und in Höhlen kriechen.
Auf der anderen Seite des grünen Sichtschutzzauns legen Mitarbeiter der Umweltschutzorganisation FPWC die Transportboxen mit Stroh aus. Ruben Khachatryan, der Zoodirektor in Jerewan ist, hat die Foundation for the Preservation of Wildlife and Cultural Assets im Jahr 2002 gegründet. Anfangs drehte er Naturdokumentationen fürs armenische Fernsehen, später errichtete er mithilfe der Weltnaturschutzunion IUCN und dem World Land Trust sowie Sponsoren aus der Wirtschaft ein 20.000 Hektar großes Schutzgebiet. Als Refugium für bedrohte Luchse, Wildziegen, Kaukasische Leoparden und Syrische Braunbären.
Syrische Braunbären gelten als stark gefährdet. In Syrien ist die Art vermutlich ausgestorben. Ihr heutiges Verbreitungsgebiet umfasst den Kleinen Kaukasus zwischen Schwarzem Meer und Kaspischem Meer. Die Gebirgsregion prägt die Landschaft Armeniens, wo noch geschätzte 150 Syrische Braunbären in freier Wildbahn leben. Sie stehen auch hier auf der Liste bedrohter Arten. Weil Landwirtschaft und Bergbau ihren Lebensraum zerstören, Wilderer Jagd auf sie machen und Dorfbewohner zur Flinte greifen, wenn sie Obstgärten oder Bienenstöcke plündern.
Gefahr droht den Bären in Armenien auch durch die Tradition, sie in Käfige zu sperren, um sie als Touristenattraktion oder Statussymbol zur Schau zu stellen. Die Haltung bedrohter Arten ist in Armenien zwar verboten, aber „die Gesetzte sind lückenhaft oder werden schlicht nicht durchgesetzt“, sagt Ruben Khachatryan. 2016 baute seine NGO daher mitten im Schutzgebiet eine Auffangstation für Wildtiere. Ein Jahr später verbündete sich die FPWC mit der britischen Tierschutzorganisation International Animal Rescue, um 80 Bären zu befreien, die landesweit in Gefangenschaft lebten.
An Dashas Gehege schließt sich ein Gebäude an. Im oberen Teil, der gerade ausgebaut wird, sollen Forscher bald das Verhalten von Bären studieren. Unten befinden sich eine Tierklinik sowie ein Gehege für Neuankömmlinge. Hier wohnen Braunbärin Minnie und Max, ein 450 Kilogramm mächtiger sibirischer Braunbär. Sie wurden aus einem Käfig befreit, der so groß wie ein Fahrradschuppen war. „Die Bären standen dort in ihren eigenen Fäkalien“, sagt Alan Knight, Geschäftsführer von International Animal Rescue. Er hat die Rettung der beiden begleitet und freut sich, dass sie bald in ein Außengehege umziehen dürfen.
In einem überdachten Gehege hinter der Klinik laufen zwei syrische Braunbären nervös auf und ab, einer dritter blickt verängstigt durch den Zaun. Sie gehörten Ex-General Manvel Grigoryan, den der armenische Geheimdienst nach der Revolution im vergangenen Jahr verhaftete. In seinem Privatzoo hielt er neben Bären auch Tiger. Die Tiere vegetierten in engen Einzelkäfigen auf Betonböden und bekamen Dosenfutter zu fressen.
Gleich nebenan werden zwei weitere Bären aufgepäppelt. Sie sind auf einer Militärbasis in Bergkarabach aufgewachsen, in der zwischen Armenien und Aserbaidschan immer wieder Gefechte aufflammen. „Wahrscheinlich haben Wilderer ihre Mutter getötet“, sagt Ruben Khachatryan. Einer der beiden winselt wie ein geprügelter Hund und nuckelt dabei an seiner Tatze.
Mehr als 30 Bären haben die FPWC und International Animal Rescue bis heute befreit. Die Auffangstation wird zu eng, man baut bereits aus. Denn nur wenige befreite Bären finden in Zoos ein neues Zuhause oder können ausgewildert werden. Weil sie traumatisiert sind, sich an Gitterstäben die Zähne abgebrochen haben, weil sie menschliche Nähe gewöhnt sind und nicht gelernt haben, in der Wildnis zu überleben. Für sie ist das Wildlife Rescue Center der Gnadenhof. Doch es gibt Ausnahmen wie Dasha.
Vor achtzehn Monaten beendete die erste Rettungsaktion ihr Martyrium in einem Restaurant mitten in Jerewan: Seit zehn Jahren lebte sie mit Braunbär Misha in einem Käfig, der an einem Flussufer zur Hälfte im Wasser stand. Zur Unterhaltung der Gäste beim Mittagessen. Dasha wurde bereits in Gefangenschaft geboren. Ihre Welt bestand aus verschweißten Eisenstangen, wenigen Quadratmetern nackten Fels und einem Fluss, der manchmal so stark anstieg, dass sie sich oben an Gitterstäben festkrallen musste, um nicht zu ertrinken. Gegen Stress und die Langeweile lief sie unaufhörlich auf und ab. Näherten sich Gäste, schob sie ihre Schnauze durch die Gitterstäbe und bettelte nach Essensresten.
Dashas Fell war stumpf, ihr Körper eingefallen, als die Tierschützer im Herbst 2017 anrückten. Das zeigen Bilder von ihrer Befreiung. Mithilfe der Regierung konnten sie den Restaurantbetreiber überzeugen, die Bären abzugeben. Sie wurden betäubt und in die Auffangstation der FPWC gebracht, wo sie eine artgerechte Heimat finden sollten. Micha erlebte die Bergidylle und weiches Gras unter den Tatzen nicht mehr: Er erlitt beim Transport einen Herzstillstand.
So bezog Dasha ihr neues Zuhause alleine, bekam reichlich frisches Obst, Gemüse, Nüsse und Honig. Doch schon bald rührte sie das Futter nicht mehr an und die Türschützer begannen, sich Sorgen zu machen: „Wir dachten anfangs, sie sei krank“, erzählt Alan Knight. „Sie verkroch sich in einer Erdhöhle und wochenlang haben wir sie nicht gesehen.“ Tatsächlich war Dasha kerngesund. Sie hielt lediglich Winterruhe und döste sich durch die kalte Jahreszeit – was Tiere in Gefangenschaft oft nicht tun. „Das war ein positives Zeichen“, sagt Ruben Khachatryan. Denn: „Wenn ein Bär Winterruhe hält, kehren seine Instinkte und seine Wildheit zurück.“
Die Bärendame sorgte für noch mehr Euphorie, als sie ihren Erdbau im Frühjahr 2018 verließ: Hinter ihr tapsten zwei neugierige Bärenbabys aus der Höhle: Luka und Coco. Dasha war offenbar schwanger bei ihrer Rettung.
Anfangs verbringt Dasha viel Zeit mit ihrem Nachwuchs in der Höhle und entfernt sich nie weit. Nach und nach beginnen die Bärenkinder, ihr Zuhause zu erkunden, streifen durchs hohe Gras, buddeln, planschen im Pool und klettern um die Wette. Ihre Mutter ist stets wachsam. Schaut ein Ranger zur Fütterung vorbei, stellt sie sich schützend vor den Nachwuchs und zeigt ihre Zähne. Oder sie packt die Kleinen im Nacken und trägt sie in den sicheren Bau. Damit Luca und Coco die Scheu vor Menschen nicht verlieren, wird rund um das Gehege ein Sichtschutz errichtet.
Denn, was vor einigen Monaten niemand für möglich gehalten hätte, scheint nun denkbar: Die Bärenfamilie auszuwildern. Dasha, in einem Käfig geboren, zehn Jahre lang gefangen und gerade noch gerettet, ehe ihrem Nachwuchs dasselbe Schicksal drohte, soll ein zweites Leben in freier Wildbahn geschenkt werden. Stoff für eine Disney-Verfilmung.
„Ich war überzeugt, dass wir die meisten der Bären nicht würden auswildern können.“ Alan Knight spricht aus Erfahrung: In Indien betreibt seine NGO das weltgrößte Bärenasyl für mehr als 300 traumatisierte Tanzbären. „Bei Dasha und den beiden von Menschen isoliert aufwachsenden Bärenkindern standen die Chancen jedoch gut.“ Nie zuvor war in Armenien ein Bär nach Jahren in Gefangenschaft in die freie Wildbahn entlassen worden.
Um dort zu überleben, müssen Dasha, Luka und Coco lernen, was essbar ist und wie sie ausreichend Nahrung finden. Also verstecken die Ranger einen Teil des Futters und bieten auch Lebendfutter an. Die Bären müssen Rüben ausgraben, Beeren erschnüffeln, Mäuse jagen und Fische fangen. Sie lernen schnell und die Kleinen entwickeln sich prächtig.
Ein Jahr nachdem Dasha mit ihrem Nachwuchs zum ersten Mal den Erdbau verlassen hat, ist es so weit: Die Bären werden heute ausgewildert. Sie sollen in ein tausend Hektar großes Schutzgebiet weiter südlich gebracht werden. Dasha trägt ein weißes Halsband, daran befestigt ist ein GPS-Sender, um die Bären in der Wildnis zu lokalisieren. Den Sender erhielt sie kürzlich bei einem Gesundheitscheck. Tierärzte von International Animal Rescue konnten ihr dabei auch ins Maul schauen und perfekte Zähne attestieren.
Das Betäuben sorgt für Aufregung im Gehege. Luca jagt wild umher, als die Ranger versuchen die Bären zu trennen. Auch Dasha läuft nervös am Zaun entlang. Es gelingt schließlich, Coco im Nachbargehege zu isolieren. Aus kurzer Distanz verpasst ihr der Zootierarzt mit einer Narkosepistole einen Betäubungspfeil. Dasha visiert er durch den Zaun an. Den ersten Pfeil zieht sie sich wütend mit der Schnauze aus der Seite. Der Nachschuss sitzt. Ihre Kräfte schwinden rasch und nach wenigen Minuten liegt ihr schlaffer Körper neben dem von Luka. Die Ranger hieven die Bären in einem Tragenetz auf die Ladefläche eines Lasters, auf der drei Transportkisten bereitstehen. Ein halbes Dutzend Männer muss bei Dasha anpacken.
Dann heißt es warten, dass die Betäubung nachlässt. Für die holprige Fahrt müssen die Bären wach sein, sie könnten sich sonst verletzen. „Das Fahrtziel hat sich kurzfristig geändert“, sagt ein angespannter Ruben Khachatryan. In der Nähe der ursprünglichen Auswilderungsstelle seien Dorfbewohner besorgt, dass ihnen die Bären zu nahe kämen. „Ich werde erst wieder ruhig schlafen, wenn uns das GPS-Signal zeigt: Die Bären sind sicher und nicht in der Nähe eines Dorfes.“ Nach ihrer Bekanntschaft mit der Betäubungspistole, werde Dasha jedoch Menschen meiden und ihren Nachwuchs noch ein Jahr lang beschützen.
Der Konvoi fährt zunächst nach Westen. Es sind wenige Wolken am Himmel, der schneebedeckte Ararat strahlt in der Sonne. Mit knapp 25 Kilometern pro Stunde geht es vorwärts, bis eine Schafherde die Straße versperrt. Grüne Hügel begleiten die Weiterfahrt gen Süden, wo Armenien an die zu Aserbaidschan gehörende Republik Nachitschewan grenzt. Mehrmals stoppt der Konvoi, damit der Tierarzt nach den Bären schauen kann. Wäre Dashas Sicht nicht versperrt, könnte sie die Äpfelkisten am Straßenrand sehen, wie die trüben Fluten des Arpa durch die braune Felsenlandschaft schneiden und der Konvoi das letzte Dorf hinter sich lässt. Nach drei Stunden haben die Bären ihr Ziel erreicht: Eine Bergwiese im Schutzgebiet des FPWC.
Das Öffnen der Boxen begleitet lautes Pfeifen. Autohupen ertönen, Knallkörper explodieren. Die Botschaft an die Bären: Haltet euch von Menschen fern! Es dauert ein paar Sekunden, bis Luka als erster aus seiner Box stürmt. Er sprintet einen Hang hinauf und verschwindet im Gebüsch. Kurz darauf läuft Dasha heftig schnaufend aus ihrer Box. Nach wenigen Schritten bleibt sie stehen und dreht sich nach Coco um. Die zögert, folgt dann aber ihrer Mutter. Als sie ihre Mutter erreicht, legt Dasha schützend eine Vorderpfote um die Tochter. Von Aggression keine Spur. Die beiden Bären erkunden ausgiebig die Umgebung. Womöglich versuchen sie Lukas Fährte aufzunehmen. Erst nach zwanzig Minuten verschwinden die beiden zwischen einigen Bäumen. Wenig später können die Ranger die wiedervereinte Bärenfamilie in einiger Entfernung am Berg ausmachen.
„Job erledigt!“ sagt Alan Knight und grinst. Auch Ruben Khachatryan kann das erste Mal seit Stunden wieder entspannt lachen. „Drei Tiere einer bedrohten Art in die Wildnis zu entlassen, ist großartig“, sagt er. Sie haben den Bären den bestmöglichen Start in ihr neues Leben ermöglicht. Ranger des FPWC werden ihnen in den nächsten Wochen mit Hilfe des GPS-Senders folgen. Um sicherzustellen, dass sie sich in freier Wildbahn zurechtfinden. Nach etwa einem Jahr wird Dashas Halsband abfallen. Dann wird sie gänzlich frei sein.
Die Geschichte hinter der Geschichte
Eigentlich wollte Tim über Artenvielfalt und Naturschutz in Armenien schreiben. Bei der Vorrecherche erfuhr er durch Zufall von der geplanten Bärenauswilderung und wusste sofort: Das ist meine Geschichte. Dashas dramatischer Lebenslauf wurde ihm erst vor Or klar. Gänsehautmoment: Nachdem die Bären aus den Transportboxen gelaufen waren, legte Dasha instinktiv eine Tatze um Coco, um ihre Tochter zu beschützen.