Würde ein Priester heiraten und Kinder bekommen, müsste er da sein für seine Gemeinde und die eigene Familie. Das kann nicht funktionieren, sagt die katholische Kirche – und hält am Zölibat fest. Aber stimmt das? In Armenien gilt die Doppelrolle als normal. Besuch bei einem Mann, der ihr gerecht werden muss.
Text und Fotos: Manuel Stark Mitarbeit: Aren Melikyan
Das Erste, was Vater Vrtanes einem Besucher zeigt, sind seine Engel. Mehr als 1600 Jahre sind sie alt, ihre Umrisse verblassen auf den Steinen der Kathedrale mit jedem Jahr mehr; mit jedem Winter, in dem Regen in die Ritzen rinnt, bis Frost Steinchen aus der Mauer sprengt. Er ist der Erste, der den Verfall aufhalten will. Als Diener Gottes sei es seine Pflicht, Gottes Heim zu schützen, sagt er.
Vrtanes ist 41 Jahre alt und seit 13 Jahren Priester in Odzun, eine Landstadt von etwa 4000 Einwohnern, gelegen in der Bergregion Lori, im Norden Armeniens. Die Leute besitzen meist einen eigenen Garten und sonst nicht viel, in Odzun gibt es eine Molkerei, einen Schlachthof und einen Steinbruch, wer dort keine Arbeit findet, pendelt in die nächstgrößere Stadt. Die Menschen hier können keine Kirchensteuern aufbringen, glaubt Vrtanes und sieht es als seine Aufgabe, sich zu kümmern. Deswegen zahlt er aus seinem Privatvermögen für die Restauration der Engel, für neue Kerzen, für Strom und Wasser.
„Du kannst nicht für alle da sein“, mahnt ihn seine Frau oft, wenn er mal wieder erst so spät von der Arbeit zurückkehrt, dass in der Straße nur noch aus den Fenstern seines Hauses Licht dringt. Seine Kinder warten darauf, dass er ihre Hausaufgaben kontrolliert. Als Oberhaupt der Familie sei es seine Pflicht, seine Kinder zu unterstützen, sagt er.
In der Armenisch-Apostolischen Kirche dürfen Priester heiraten und Kinder bekommen, wenn sie dafür auf einen Aufstieg in höhere klerikale Ränge verzichten. Vrtanes entschied sich nach seiner Weihe für diesen Weg. Ein Leben ohne Frau und Kind war für ihn ebenso unvorstellbar wie ein Leben ohne Gott.
Der römisch-katholische Bischof von Magdeburg, Gerhard Feige, besuchte Armenien im Frühjahr 2019. Zum Abschluss seiner Reise sagte er, Deutschland könne ein Vorbild für Armenien sein, wenn es darum gehe, wie Staat und Kirche miteinander umgehen.
In Armenien, so schreibt es die Verfassung vor, handeln Kirche und Staat getrennt. Tatsächlich aber fällte bis zur samtenen Revolution 2018 die Politik kaum Entscheidungen, ohne dass ein hochrangiger Kleriker anwesend war und seinen Segen über die Beschlüsse sprach. Die Regierung entsandte bei nahezu jedem kirchlichen Festakt einen Minister oder ähnlich hochrangigen Würdenträger als Vertreter. Offizielle Kanäle, wie die Webseite des armenischen Konsulats, betonen die armenische Kirche noch heute als Teil der Nation mit ,,christlichem Geist in armenischer Tracht”. Bis vor der Revolution besaß die armenische Kirche die Macht einer Staatskirche. Die neue Regierung hat nach einem Jahr im Amt noch keinen klaren Umgang mit der Kirche definiert.
Anders als in der römisch-katholischen Kirche, die Frauen zumindest als Ordensschwestern kennt, waren in der armenischen Kirche bis zum Jahr 2000 Frauen aus dem klerikalen Dienst ausgeschlossen. Die patriarchale Gesellschaft sah ihre Schuld gegenüber Gott an Heim, Herd und Kind. Seit 2002 gibt es sieben Nonnen in der armenischen Kirche, die direkt dem obersten Katholikos, gewissermaßen dem „Papst“ der armenischen Kirche, unterstehen und abgeschieden in einem ländlichen Kloster leben.
Während aber in Deutschland die Kirchenaustritte steigen, gehören in Armenien noch immer etwa 94 Prozent der Bevölkerung der Apostolischen Kirche an. Könnte Armenien, das als ältestes christliches Land der Erde bereits 301 nach Christus das Christentum zur Staatsreligion erhob, also nicht auch Vorbild sein für die katholische Kirche? In ihr ist es Menschen wie Vrtanes unmöglich, sich ehrlich zu entfalten, das Zölibat verhindert das. Es soll vollkommene Hingabe zu Gott garantieren – der Priester als Vater für die ihm anvertraute Gemeinde. Die Rolle als Vater einer eigenen Familie gilt als unvereinbar mit dieser Pflicht, zu sehr würden beide Aufgaben unter der Doppelbelastung leiden, heißt es beispielsweise vom Bischof von Regensburg. Aber stimmt das?
Vrtanes muss beide Rollen ausfüllen. Am Morgen zieht er sich das schwarze Priestergewand über ein weißes Hemd, ehe er das Haus verlässt – seine Amtstracht trägt er immer „in der Welt da draußen“, nur Zuhause legt er sie ab. Er braucht fünf Gehminuten, an der Außenmauer des Pfarrgartens vorbei bis zum Ende der Straße, wo er ein doppelflügliges Metalltor öffnet. Verschlossen ist es nie, Vrtanes will, dass Gläubige immer Zugang zu seiner Kirche finden – Gott macht keine Pause.
Neben dem Tor verkündet ein kleiner Aushang: Morgenandacht täglich um neun. Es ist 9:20 Uhr. Vrtanes hatte mit seiner Familie gefrühstückt, die Rucksäcke der Kinder kontrolliert und geprüft, ob sie ordentlich angezogen sind für die Schule. Das tut er fast jeden Tag, obwohl seine Frau an derselben Schule als Lehrerin arbeitet. Ihr ist es wichtig, dass er Präsenz zeigt als Vater, ihm ist es wichtig, dass er so seiner Pflicht nachkommt, als Familienoberhaupt.
Als er aus der Sonne in das Kirchenportal tritt, begegnet ihm Stille. Nicht ein Gläubiger sitzt auf einer der Holzbänke, niemand kniet auf dem Teppich vor dem Altar oder neben den Säulen, wie er es schon häufig beobachtet hat, wenn jemand Gott für besonders große Schuld um Verzeihung bittet. Nur ein paar Bittkerzen flackern an gegen das Zwielicht, sie sind noch frisch und wurden anscheinend gerade erst entzündet.
Still stellt sich Vrtanes vor den Altar und neigt sein Haupt, wendet sich dann nach links und steigt die zwei Stufen zur Sakristei hinab, wo er das Zeremonien-Gewand überwirft, das er für jede Liturgie trägt – ein himmelblauer Umhang, bestickt mit goldenen Kreuzen. Wieder stellt er sich vor den Altar; er schließt die Augen, breitet die Hände aus und singt in tiefer Melodie ein Gotteslied, das niemand hört. 15 Minuten lang bleibt sein Gesicht dem Altar zugewandt, nur einmal dreht er sich zu den Bankreihen, um den Segen in ein leeres Gewölbe zu sprechen.
Während Vrtanes drinnen Gottesdienst hält, kommen draußen die ersten Touristen an. Meist sind es Deutsche und Franzosen, sie haben das ländliche Armenien als Zwischenstation eines Pauschalurlaubs gebucht – einmal Kaukasus, Beginn und Ende in Georgien.
Sowie sich die Gestalt des Priesters aus dem Halbdunkel des Kirchenportals schält, läuft ihm die erste Gruppe entgegen. Selfie. Umarmung. Shake Hands. Jeder stellt sich mit Namen vor, will etwas wissen über das Leben im Glauben. Vrtanes nickt freundlich, strahlt Arm in Arm in ein um die andere Handy-Kamera und sagt den Satz, den er dutzendfach am Tag sagt, immer dann, wenn ihn Touristen ansprechen: „Nice to meet you here, let me show you something“. Schön euch hier zu treffen, lasst mich euch etwas zeigen.
Dann führt er sie um die Kirche und erzählt von seinen
Engeln. Seine Stimme hebt sich, wird fast laut und so klar, als würde er
predigen, wenn er von Gott oder Christus spricht oder mit ausgestrecktem Arm
auf die Engel und Erzengel zeigt, die in der Fassade wachen.
Sein Handy klingelt während der Tour zwei Mal. Er entschuldigt sich, drückt den
Anruf weg, tippt schnell eine Nachricht. Die beiden Anrufe seien von einer Frau
und ihrer Tochter gekommen, sagt er später. Die Tochter sei schwanger, deshalb
wollen die beiden beten kommen, für die Gesundheit des ungeborenen Kindes.
Zu dritt stehen sie vor dem Altar, Vrtanes hat sein liturgisches Gewand angezogen und leitet die Anrufung zu Gott. Alle drei drehen ihre Handflächen nach oben und wechseln zwischen Fürbitte und Gesang. Zum Abschied zeichnet der Priester mit Weihwasser ein Kreuz auf die Stirn der werdenden Mutter und drückt sie in eine Umarmung.
Im Laufe des Tages kommen weitere Menschengruppen in seine Kirche, zwei alte Frauen bitten um die Segnung einer Ikone, eine Familie bittet um Schutz vor Krankheit für ein Neugeborenes, ein Ehemann mit traurignassen Augen sucht Vergebung für schlimme Gedanken, die in ihm aufkommen, wenn er junge Frauen sieht.
Vrtanes hat keinen von ihnen zuvor schon einmal getroffen, auch die Mutter und ihre schwangere Tochter kannte er nicht. Alle Besucher riefen ihn vorher an und baten darum, kommen zu dürfen. Im Netz ist Vrtanes kaum zu finden, er hat keine Pfarrverwaltung, kein Sekretariat und keine Webseite für seine Gemeinde, nur auf Facebook ist er mit einem persönlichen Profil angemeldet. Trotzdem kennt jeder seine Telefonnummer.
Einige Freunde kritisieren den Priester dafür, dass er seine Kontaktdaten so leicht herausgibt, seine Telefonnummer offen in Facebook stellt und jedem aushändigt, der möchte. Hunderte müssen sie inzwischen besitzen, sagen sie. Inzwischen haben sie aufgehört, zu fragen: Wieso tust du das? Vrtanes sagt: Ich will als Diener da sein, für die Menschen.
Auch deshalb, sagt er, sei es ihm nicht so wichtig, die formellen Zeiten für das Gebet einzuhalten: für das Zwiegespräch mit Gott braucht es ihn nicht – er sei Diener, kein Torwächter. Für Menschen, die ihn brauchen, schalte er sein Telefon nie aus, nicht einmal nachts.
Es ist nach 21 Uhr, als Vrtanes die Tür seines Hauses aufschließt und sich nach einem einsilbigen Gruß auf das Sofa im Wohnzimmer niederlässt.
Petros, 14, sein Ältester, schaltet den Computer aus; das Knallen von Kanonensalven eines Kriegsspiels verstummt, der Bildschirm wird schwarz, und Petros setzt sich auf einen Stuhl neben seinem Vater. Später will er ihm einige Videos zeigen, die er auf YouTube entdeckt hat, aber erst braucht der Vater Ruhe. So ist es jeden Abend. Etwa eine halbe Stunde sitzt Vrtanes da und schneidet Äpfel in mundgerechte Stücke, jedes dritte isst er selbst, die anderen drapiert er auf einem Teller vor sich. Manchmal kommen Soghmon, 12, und Mariam, 7, vorbei und schnappen sich einen Schnitzer Obst. Vrtanes tut in diesen Momenten empört, hebt die Arme wie zum Protest. Das einzig Bedrohliche bleibt dann doch nur sein Lachen: laut drängt es tief aus der Brust nach oben.
Aus dem Nebenraum ruft Seda, 13, nach ihrem Vater – sie sei fertig mit den Hausaufgaben. Sie sitzt an ihrem Schreibtisch, die Tapete um sie herum ist gespickt mit Disney-Motiven von König der Löwen über Bambi bis zu den Sieben Zwergen; sie besitzt kein eigenes Zimmer, muss den Raum mit ihren zwei kleinen Geschwistern teilen. Das Geld reicht nur für eine kleine Wohnung, solange der Vater aus seinen privaten Rücklagen die Engel der Kathedrale rettet.
Vrtanes beugt sich über sie und geht die Aufgaben mit ihr durch – armenische Geschichte. Als der Vater selbst noch Schüler war, zählte dieser Unterricht zu seinen Lieblingsfächern. Er blättert erst die eine, dann die zweite Seite des Aufgabenheftes um und nickt. Alles in Ordnung, die Lehrerin wird zufrieden sein.
Als nächstes ist Mariam dran, schon in der zweiten Klasse hat seine jüngste Tochter Deutschunterricht. Sie tut sich schwer, versteht nicht, wieso Worte wie Stein als Schtein ausgesprochen werden. Zwei Absätze liest er mit ihr, sie handeln darüber, dass Armenien ein Land der Steine und Felsen ist, mit dem Aragaz als höchstem Berg und dem Ararat als Heiligtum außerhalb der Landesgrenze.
Der Vater nickt, Mariam springt auf, Petros nimmt ihren Platz ein. Das neue YouTube-Video, dass er seinem Vater zeigen will, ist eine Parodie auf den Rücktritt des alten Premierminister von Armenien. Wieder lacht Vrtanes sein tiefes, grollendes Lachen. Petro grinst.
22 Uhr – Bettzeit für die Kinder. Seine Frau Liana scheucht die Kleinen vor sich her, die beiden Teenager verdrehen genervt die Augen, aber fügen sich. Der Vater bleibt zurück.
Eine Stunde am Abend, unter der Woche hat er selten mehr Zeit für seine Kinder. Aber am Wochenende, da jubelt er am Feldrand Petros zu, wenn er mit seiner Mannschaft Fußball spielt, lauscht den Klavierübungen von Seda und zeigt seinen beiden Kleinen, Mariam und Soghmon die Bienen – ein Bienenvolk hatte er von einem Nachbarn geschenkt bekommen, als er neu hinzugezogen war, ins Dorf; sieben hat er seitdem daraus wachsen lassen.
Kürzlich musste seine Familie trotz des Wochenendes auf ihren Vater verzichten, Vrtanes traf einen katholischen Priester in Jerewan, der Hauptstadt Armeniens. Der wollte wissen, ob Vrtanes es tatsächlich schaffe, da zu sein, als Vater für seine Kinder, und als Schäfer für die Gemeinde.
Vrtanes antwortete: auch wenn ich mich zu einem Leben in der Uniform der Kirche entschieden habe, bleibe ich doch ein Mann. Würde ich mir die Liebe zu einer Frau, den Wunsch nach Kindern verbieten, ich würde verleugnen, wer ich bin. Wie könnte ich dann noch ein guter Priester für meine Gemeinde sein?
Für andere da sein – kann das funktionieren ohne regelmäßige Zeiten für
Gottesdienst und Andacht? In den Straßen von Odzun wirkt es, als würden die
Menschen sich gegenseitig übertreffen wollen, sobald sie von ihrem Priester
erzählen.
Da ist eine alte Frau, gekleidet in dunkelblauen Blazer und mit einer goldenen Lilienbrosche auf der Brust, die sagt: Ich habe in den fast 90 Jahren meines Lebens viele Liturgien gesehen, aber keine wie seine an den Sonntagen. Er fühlt sich in uns ein, holt uns ab und füttert unsere Seele. Er ist großartig.
Da ist ein Mann, Mitte 30, Fleischer, der sagt: Es gibt Priester, die wirken, wie von Mond herabgestiegen. Er ist ein Mann von der Straße, der sich zu einem Leben im Glauben entscheiden hat. Und auf der Straße rede ich gerne mit ihm. Ich bin nicht besonders gläubig, aber er hört bei Sorgen zu und weiß Rat.
Und da sind ein halbes dutzend weitere, die in verschiedenen Worten dasselbe beschreiben: Es gibt keinen zweiten wie ihn. Es wäre schrecklich, ihn zu verlieren.
Vrtanes selbst sagt: willst du die Menschen erreichen, musst du dasselbe Leben führen wie sie. Wie könnte ich einem Ehepaar oder einer verzweifelten Mutter Verständnis entgegenbringen, wenn ich mich weggesperrt hätte, hinter der Kutte des Zölibats.
Die Geschichte hinter der Geschichte
Die Mimik, die Gestik, die Sprachmelodie – in einem Land, dessen Zunge Manuel Stark nicht spricht, fehlte ihm all das. Er war überfordert. Wie sollte er eine Situation einschätzen, einen Menschen, ohne diese Werkzeuge? Als ein Betrunkener mit einem Dorfbewohner vor der Kirche scheinbar scherzte, wollte er die Szene fotografieren. Sein Übersetzer hielt ihn ab, drückte seine Kamera nach unten. „Kein guter Moment“, sagte er. Wenige Sekunden später stießen die Männer sich voneinander weg. Sie stritten.