800 Mikrogramm Schicksal

In Armenien werden so viele weibliche Föten abgetrieben wie kaum in einem anderen Land. Hilfsorganisationen und betroffene Frauen kämpfen gegen brutale Geschlechterrollen. Mit Erfolg? Ein Besuch in der armenischen Provinz.

Text und Fotos: Luisa Willmann Mitarbeit: Eline Hovhannisjan

Zwei Pillen liegen auf dem Küchentisch. Ruzanna Kasabian* weiß, wenn sie die schluckt, wird der Fötus in ihrem Bauch sterben. Die Pillen sind Cytotec, ein Medikament gegen Magenschmerzen, das wegen des synthetischen Hormons Misoprostol auch für Abtreibungen zuhause genutzt wird. Leicht cremefarbene Tabletten mit je 200 Mikrogramm Misoprostol. Die Schwiegermutter sagt: Es gibt keinen Platz für das Mädchen, und nachmittags fragt sie nach: Warum hast du die Pillen noch nicht genommen? Ruzanna Kasabian verspricht: Ich werde sie bald nehmen.

So spielt sich dieser Moment in ihrer Erinnerung ab, sagt sie heute, sieben Jahre später. Ruzanna Kasabian ist mittlerweile vierzig Jahre alt und bewohnt eine kleine Wohnung in einem Plattenbau, fünfzig Kilometer von ihrer Schwiegermutter entfernt. Ruzanna Kasabian hat hellbraunes Haar, weiche Gesichtszüge und trägt einen Wollpulli, an dem Strass-Steinchen glitzern. Sie sitzt auf einem Holzstuhl, hinter ihr ein Klavier, darüber ein Bild von Jesus Christus. Sonst sind die Wände kahl, vor den Fenstern dünne Vorhänge, auf dem Boden dicke Teppiche. Der Raum dient als Wohn-, Ess-, Kinder- und Schlafzimmer.

Ruzanna Kasabians Erfahrung ist eine von vielen in Armenien. Nach einer Studie des Bevölkerungsfonds der Vereinten Nationen trieben 2016 knapp die Hälfte der Frauen, die jemals einen Partner hatten, ab. Bei beinahe drei Millionen Einwohnern werden jährlich 1.400 weibliche Föten nach der Geschlechtserkennung abgetrieben, die meisten in der Provinz Gegharkunik, in der Kasabian wohnt. Die Provinz grenzt im Osten des Landes an Aserbaidschan. Gründe für die vielen Abtreibungen sind die sinkende Geburtenrate und alte Rollenbilder, verbunden mit neuen Technologien, wie Ultraschall. Armenien hat mit Aserbaidschan, China und Indien die höchsten Abtreibungsraten weltweit. In China wurden vor allem während der Ein-Kind-Politik weibliche Föten abgetrieben. In Indien entscheiden sich Paare oft wegen der hohen Mitgift bei der Heirat gegen ein Mädchen.

Ruzanna Kasabian studierte in Gegharkunik. Sie möchte nicht, dass ihr Studienfach und Beruf genannt werden, weil sie Angst hat, erkannt zu werden. Sie lernte an der Universität ihren Mann kennen. Nach dreizehn Jahren Freundschaft heirateten sie. Weder Freunde noch Familienmitglieder konnten sich vorstellen, dass sie sich jemals scheiden lassen würden. Damals wünschte sie sich, mit ihrer Schwiegermutter zu leben. Sie benannten 2011 ihre erste Tochter nach ihr: Anush.* Trotzdem fragte die Schwiegermutter: Warum eine Tochter, warum keinen Sohn?

Die Schwiegermutter bekam ihre Kinder in der Sowjetunion. Damals waren Abtreibungen ein Element der Familienplanung, zehn bis fünfzehn Abtreibungen je Frau: Normalität, sagt die armenische Gesundheitsministerin. Als Ruzanna Kasabian ihre erste Tochter gebar, ahnte sie noch nichts.

Bis ihr Schwager starb. Die Schwiegermutter hatte drei Söhne: einer war nun tot, der zweite geschieden, der dritte Ruzanna Kasabians Mann. „Ich war wieder schwanger“, erzählt die sie und faltet ihre Hände auf ihrer grauen Stoffhose. Obwohl ihre Schwiegermutter bereits zwei Enkelsöhne hatte, sollte auch sie einen Jungen bekommen, der das Familienerbe weiterführt. Das bedeutet in Armenien, einen Jungen, der den Namen weiterträgt, sich um seine Familie kümmert, denn Mädchen ziehen später meist zur Familie ihres Ehemannes. Früher mussten Familien warten, bis ein Junge geboren wurde, seit den neunziger Jahren gibt es immer mehr Ultraschallgeräte in Armenien. Ruzanna Kasabian machte einen Ultraschall: erneut ein Mädchen. Damals war Tochter Anush sieben Monate alt und die Schwiegermutter kümmerte sich lieber um die Enkelsöhne als um sie.

Zu dem Zeitpunkt legte sich Ruzanna Kasabian mit ihrem Baby ins Bett, weil sie sich nicht gut fühlte. Sie musste sich erbrechen. Die Schwiegermutter kam in ihr Zimmer und wollte trotzdem, dass sie gemeinsam essen. „Ich sagte ihr, dass ich keinen Appetit habe“, erinnert sich Kasabian. Dann kam ihr Mann nachhause und küsste erst seine Mutter, danach sie. Als er wieder ihr Zimmer verließ und Kasabian in ihrem Bett lag, hörte sie ihre Schwiegermutter schreien: Deine Frau spricht nicht mit mir. Darauf kam ihr Mann in ihr Zimmer und prügelte sie. 

In ihrer Erinnerung war es schon dunkel, als ihre Schwiegermutter alle Kissen und Decken von ihrem Ehebett nahm und das Bett für ihren Sohn in einem anderen Raum machte. Ruzanna Kasabian verbrachte die Nacht eingewickelt in einem Badetuch. 

Als ihre Schwiegermutter forderte, dass sie abtreiben solle, verließ sie weinend das Haus, vertraute sich der Schwester der Schwiegermutter an, doch die verpfiff sie. Warum lüftest du unser Geheimnis?!, schrie die Schwiegermutter, als sie wieder zuhause war. Anfangs dachte Ruzanna Kasabian: Ich kann mich nicht scheiden lassen. Sie wollte die Ehe fortführen. Und ihr Mann?: „Er trank immer wieder Alkohol, er wollte die Probleme nicht wahrnehmen.“

Die Schwiegermutter informierte sich bei Nachbarn über Möglichkeiten abzutreiben und schickte ihren Mann in die Apotheke, der die Wirkung der Pillen nicht kannte. Er kaufte sie, wie alle Medikamente für die Familie. Die Schwiegermutter nahm zwei Pillen und drückte sie Ruzanna Kasabian in die Hand: Jetzt machst du das!, befahl sie. Ruzanna Kasabian gehorchte. Am Abend führte sie zwei weitere Pillen vaginal ein und legte sich mit der Dosis von 800 Mikrogramm Misoprostol im Körper ins Bett, obwohl sie unter Aufsicht bleiben sollte wegen möglichen Blutungen, Schmerzen, Übelkeit und bei seltenen Fällen Infektionsrisiken.

Diese Unterwerfung von Frauen will Irina Hovhannisyan in Zukunft verhindern.Ihr Ziel: Gleichberechtigung von Mann und Frau. Irina Hovhannisyan, roter Bob, dunkler Blazer, weiße Turnschuhe, kämpft gegen selektive Abtreibung. In einem schlichten Raum der Kunstschule der Stadt Martuni steht ihr Puppentheater mit samtrotem Vorhang. Davor sitzen rund dreißig Frauen, die nicht wissen, was sie erwartet. Hinter der Bühne stehen Kinder. Sie werden ein Stück spielen, das „Der Tod von Kikos“ heißt.  Im originalen armenischen Stück fantasiert eine Frau, dass ihr Sohn Kikos umkommt. Bei der heutigen Aufführung wird er überleben, doch im Jahr 2060 keine Frau finden. Die Puppen stoßen aus dem Vorhang, die Kinder geben ihnen laute Stimmen, die Frauen lassen die Bühne nicht aus den Augen. Später werden sie über das Thema diskutieren.

Sieben Jahre zuvor. Nachdem Ruzanna Kasabian die Pillen geschluckt und eingeführt hatte, machte sie einen Schwangerschaftstest: positiv, trotz Cytotec.

Ruzanna Kasabian entschied sich, das Haus zu verlassen. Am Morgen, an dem ihr bisheriges Leben enden sollte, räumte sie das Haus auf und legte ihre goldenen Ringe und Ketten ab. Doch ihr Mann wollte sie nicht gehen lassen, er wollte sie weiterprügeln. Sie hielt ihre Tochter als Schutz vor sich. Schließlich stellte sich der Schwiegervater zwischen das Ehepaar, er sagte, es sei ihre Entscheidung, zu gehen. Ruzanna Kasabian verließ das Haus, zog vorübergehend zu ihrer Schwester und ließ sich scheiden.

Das Medikament hatte Auswirkungen auf den Fötus. Es sei zu riskant, das Kind zu bekommen, sagte die Ärztin. 2011, zwanzig Tage nach der Scheidung, trieb Ruzanna Kasabian ab.

Seitdem wohnt sie mit Tochter Anush in der kleinen Wohnung. Sie holt ein Fotoalbum und blättert darin. Licht fällt durch die Vorhänge auf die Bilder. Überall Anush, umrahmt von Blumen oder Teddybären. Pergamentblätter rascheln, dazwischen ein Mann, der in einem Sessel liegt, Glatze, geröteter Kopf, dünne Nase, auf seinem Schoß Anush, wenige Monate alt. „Mein Mann, betrunken“, erklärt sie und sucht weiter, bis fast zum Ende des Albums. „Da ist sie“, sagt sie leise, „die Schwiegermutter.“ Eine Frau mit heller Dauerwelle und schwarzem Kostüm. Ruzanna Kasabian verstaut das Album.

Jetzt machst du das!, befahl sie.

„In Armenien machen meist Schwiegermütter den Schwiegertöchtern Druck, einen Jungen zu bekommen, oder die Ehemänner. Oft ist es auch die Entscheidung der Frau, weil sie ihren Mann beschenken möchte“, sagt Karine Saribekyan. „Auch der Rückgang der Geburten pro Frau spielt eine Rolle. In den sechziger Jahren bekam eine Frau im Schnitt mehr als vier Kinder, heute nicht einmal zwei.“ Sie erklärt: „Beim zweiten und dritten Kind ist der Druck, einen Jungen zu bekommen, besonders groß. In Armenien kamen 2012 beim drittgeborenen Kind auf 100 Mädchen 164 Jungs.“ Karine Saribekyan denkt, dass es sich bessert, dass die Jugend ihre Einstellung ändert.

In Gegharunik kommt Anush ins Wohnzimmer, zartes Gesicht, langes braunes Haar, Adidas-Hose. Sie sagt strahlend: „Ich will Sängerin oder Ärztin werden!“ Wie zum Beweis singt sie ein armenisches Volkslied. Ruzanna Kasabian deckt den Tisch: Kuchen, Obst, armenischen Cogncac, selbstgemachtes Kirschwasser und blickt zu Anush.

Am Abend gehen Mutter und Tochter vorbei an Plattenbauten. Anush schaut zu den Jungs, die Fußball spielen, das gefällt ihr. Direkt daneben eine kleine Kapelle, heute ist sie geschlossen. Im Zentrum der Stadt: das einzige Restaurant, mit großen Fenstern und schweren Gardinen. Hier feiern Männer unter Männern. Frauen sind nicht erwünscht.

Nach der Abtreibung sagten ihr Freunde und Verwandte: Das macht nichts, viele Frauen treiben ab. Ruzanna Kasabian aber wollte nicht mehr leben. Nur ihre Tochter und ihr Glaube gaben ihr Kraft. „Mich beschäftigt, dass ich einen Menschen getötet habe“, sagt sie und wischt sich mit einer Mickey-Mouse-Serviette Tränen ab. Und ihr Exmann? Wenn Ruzanna Kasabian sich mit ihm an einen Tisch setzt, fragt er: Warum hast du meinem zweiten Kind kein Leben gegeben? Bei diesem Vorwurf erinnert sie ihn daran, unter welchem Druck sie das Medikament genommen hat.

Ihr Exmann ist gesetzlich verpflichtet, sie zu unterstützen, doch er zahlt nichts und sie fordert nichts. Im Gegensatz zu vielen anderen armenischen Frauen hat sie eine Ausbildung und arbeitet. Möchte sie nochmal einen Mann? „Ich habe ihn geliebt und werde ihn lieben”, sagt sie. Ruzanna Kasabian möchte keinen anderen Mann. „Doch er wird nicht aufhören zu trinken und seine Mutter nicht verlassen.“ Sie sah die Schwiegermutter vier Jahre nach der Scheidung bei der Beerdigung des Schwiegervaters. Die Schwiegermutter umarmte sie. „Vielleicht bereut sie es“, sagt sie sich.

Das Medikament Cytotec wurde 1985 von der deutschen Firma Pfitzer eingeführt. Seit Januar 2006 vertreibt es Pfitzer in Deutschland nicht mehr. Die Firma hat keine Zulassung für eine gynäkologische oder geburtshilfliche Indikation beantragt, doch das Medikament wurde außerhalb des zugelassenen Gebrauchs zum Schwangerschaftsabbruch genutzt. Cytotec ist in anderen Ländern immer noch erhältlich. In Armenien ist es mittlerweile rezeptpflichtig, trotzdem ist es auch ohne Rezept zu bekommen.

Seit 2016 ist Abtreibung nach der 12. Schwangerschaftswoche in Armenien illegal. Bei einer Abtreibung vor der 12. Woche müssen Frauen zu einem Beratungsgespräch und eine Drei-Tages-Bedenkzeit einhalten. Doch eine Frauenärztin aus Gegharunik erklärt: „Viele Frauen warten ab, bis sie das Geschlecht der Kinder auf dem Ultraschall sehen; dann fälschen Ärzte Dokumente und treiben selbst nach der gesetzlichen Frist ab.“ Das Geschlecht kann mit Ultraschall oft in der zwölften Schwangerschaftswoche erkannt werden, in der 14. Woche ist es eindeutig sichtbar. Die Frauenärztin hatte in den neunziger Jahren selbst abgetrieben, doch sie sorgte sich um die Gesundheit der Frauen, sah Kopf und Hände der vier Monate alten Mädchen und konnte es nicht mehr mit ihrem Gewissen vereinbaren.

Die in Armenien bekannte und von konservativen Kräften häufig angegriffene Menschenrechtsaktivistin Lara Aharonian kritisiert das neue Gesetz: „Es greift Ärzte an und schafft Hürden für Frauen.“ Sie möchte Stereotype anpacken, denn die Selektion von weiblichen Föten sei ein Merkmal von Geschlechterungleichheit. Deswegen solle die Regierung das Thema in den Zuständigkeitsbereich des Bildungssektors legen statt in den der Gesundheit.

Ruzanna Kasabian arbeitet in Gegharkunik. Seit über einem Jahrzehnt. Trotzdem kennen ihre Kolleginnen nicht ihre Geschichte, mit denen sie sich sonst über alles Mögliche unterhält.

In Martuni steht Irina Hovhannisyan vor dem roten Vorhang und verrät das Thema, als das Puppentheater vorbei ist: selektive Abtreibung. Sie geht auf die Frauen zu und fragt: „Warum werden weibliche Föten abgetrieben?“ Es ist ruhig. Eine Frau in Jeansjacke sagt: „Wir wollen Jungs, die in Russland Geld verdienen.“ Viele Männer in der Region Gegharkunik gehen nach Russland zum Arbeiten und lassen ihre Frauen zurück, die nicht aus der Mutterrolle herauskommen.  Eine andere Frau sagt: „Mädchen ziehen zur Familie des Ehemannes.“ Irina Hovhannisyan hebt ein Plakat in die Höhe, darauf ist Adam abgebildet. „Was wäre Adam ohne Eva?“, fragt sie mit lauter Stimme und greift nach dem nächsten Plakat: 2060 sei ein kritisches Jahr, denn Armenien verliere jährlich 1.400 Mädchen.

Die Frauen unterhalten sich, als die Aufführung vorbei ist. Eine Schwangere verrät: „Es wird ein Mädchen“ und blickt auf ihren Bauch. Ihr Mann und ihre Kinder wissen es, sonst niemand. Ihren Schwiegereltern erzählte sie, dass sie einen Jungen erwartet. Das glauben sie immer noch.

Beim nächsten Puppentheater wird vielleicht Pfarrer Jeremya dabei sein. Irina Hovhannisyan möchte mit ihm Menschen erreichen, die oft in der Kirche sind, Frauen, die eine männliche Person um Ratschlag fragen möchten, wenn ihr Ehemann in Russland ist. 

Armenische Feministinnen warnen davor, dass Abtreibung stigmatisiert wird. Lara Aharonian sagt: „Es ist gefährlich, Geistliche in den Dialog einzuladen, denn sie sind generell gegen Abtreibung.“ Außerdem würden einige Kampagnen Stereotype beinhalten, wenn zum Beispiel von verlorenen Müttern die Rede ist.

In Gegharkunik kehrt Anush zurück vom Spielplatz. An Wand und Decken des Treppenhauses sind Flecken und Risse, es ist feucht. Hinter manchen Türen ist die Geschichte ihrer Mutter bekannt. Ruzanna Kasabian erzählte sie Nachbarinnen, um sie zu überzeugen, auch ein Mädchen auszutragen. Weil sie möchte, dass andere Frauen nicht denselben Fehler wie sie machen. Auch Freundinnen aus Jerewan wissen Bescheidsogar Freundinnen von Freunden. Deren Mädchen wurden geboren.

Die Geschichte hinter der Geschichte

Luisa war im Parlament, Krankenhaus und Theater. Für ihre Recherche. Und auf einer Honigfarm, in einer Bücherei, im Tierladen. Nach über einer Woche hatte sie das noch nicht gefunden, was so wichtig war: ein persönliches Schicksal. Luisa fragte sich, ob sie sich zu viel abseits ihres Themas umsieht. Dabei hatte sie bereits mit ihrer Protagonistin Ruzanna Kasabian geredet. Erst danach hat Ruzanna von Luisas Suche erfahren und sich gemeldet.


* Der Name wurde geändert.

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