Die letzten Molokanen

Molokanen leben streng nach den Worten der Bibel, jahrhundertelang mieden sie den Kontakt zur Außenwelt. Dann eröffneten Natascha und Mikhail in ihrem Dorf ein Guesthouse. Und plötzlich ist da diese Sache mit dem Internet

Text: Friederike Oertel Mitarbeit: Gayane Mirzoyan Fotos: Nelli Shishmanyan und Friederike Oertel

Das Dach des Reisebusses ragt über die Holzhäuser hinaus. Die spitzen Giebel reichen gerade einmal bis zum Fenster. Wankend sinkt der Bus in die Schlaglöcher der erdigen Straße. Rechts und links des Weges erstreckt sich ein Dorf, wie aus Raum und Zeit gefallen: Traditionelle russische Holzhäuser mit bunten Fassaden und geschnitzten Fensterrahmen. Felder, auf denen blonde Frauen in knöchellangen Röcken und bärtige Männer den Acker umpflügen.

Schaukelnd kommt der Bus zum Stehen. Mit einem Zischen öffnen sich Türen. Reisende in khakifarbenen Trekkinghosen, Sonnenhüten und Bauchtaschen steigen aus. Sie schauen über den Gartenzaun eines Hauses, fotografieren, schwatzen durcheinander. Das Gartentor des Nachbarhauses springt auf. Ein Mann mit struppigem Bart stürzt heraus und wedelt mit den Armen, als wolle er eine Fliege verscheuchen. „Geht weg, das ist kein Zoo!“

Das kleine Dorf Fioletovo liegt im Norden Armeniens. Im Hochland, zwischen kargen Hügeln und grauen Bergketten, auf denen der letzte Schnee des Winters schmilzt. Ein schmaler Fluss, zwei parallel verlaufende Straßen, ein Birkenhain. Seit fast hundertachtzig Jahren leben hier Molokanen, eine christliche Glaubensgemeinschaft, die, ähnlich wie die Mennoniten oder Amish People, einer strengen Auslegung der Bibel folgen. Sie selbst bezeichnen sich als spirituelle Gemeinde des Christentums. Entstanden in Russland, wo sie sich Ende des 18. Jahrhunderts gegen Prunk und Klerus der russisch-orthodoxen Kirche wandten und die enge Beziehung zum Zarenhaus kritisierten. Sie wurden verfolgt und schließlich ausgesiedelt – an die Ränder des russischen Zarenreiches, ins heutige Armenien und Aserbaidschan.

Von dreiundzwanzig Dörfern ist in Armenien eines geblieben, in dem ausschließlich Molokanen leben: Fioletovo. Rund tausend Gläubige leben hier. Bis heute grenzen sie sich von der Welt ab und folgen strengen Regeln: Es gibt weder Kirchen und Priester, noch Ikonen. Molokanen heiraten nur innerhalb der Gemeinschaft, Scheidungen sind streng verboten. Sie sprechen Russisch und versorgen sich selbst. Jede Familie besitzt eigene Felder und Ställe. Ihr Glaube fordert Bescheidenheit und Verzicht. Alkohol, Tabak, moderne Technik wie Internet und Fernseher, Tanz und Schmuck sind verboten.

Das Internet sei “Teufelszeug”, sagt der Dorfälteste.

Denn die einst so klare Linie zwischen Gemeinde und Außenwelt wird durchlässig. Auch wegen Menschen wie Natascha und Mikhail Rudometkin. Sie haben etwas getan, was für Molokanen untypisch ist: im Dorf ein „Guesthouse“ eröffnet.

Mikhail schiebt das Gartentor auf. Er ist 58 Jahre alt, groß und hager, Haar und Bart sind weiß und schütter. Im Dorf nennen sie ihn den Seemann. Einmal, als er noch ein kleiner Junge war, fiel er in den Fluss und wurde von der Strömung davongerissen. Ein Nachbarsjunge rettete ihn vorm Ertrinken.

Im Dorf haben alle einen Ruf. Ihn zu verlieren ist schwer bis unmöglich. Mikhail blinzelt zum schimpfenden Nachbarn hinüber und sagt mit sanfter Stimme: „Nicht beachten, er war schon als Kind aufbrausend“. Natascha, 56, ist die Tüchtige. Sie steht am Eingang, breitbeinig, die Hände in den Hüften, die Füße in flauschigen Puschen, und winkt die Gäste herein, weg von der Straße. Das Haar versteckt sie, wie alle Frauen der Gemeinde, unter einem Kopftuch.

Durch einen Hinterhof, vorbei an einem Stall, in dem zwei magere Rinder, zwei Katzen, ein Hund und ein paar Hühner leben, führt sie die Gäste in einen geräumigen Wintergarten. Der Blick aus dem Fenster zeigt den Garten der Rudometkins – und Molokanen auf Äckern und Wiesen ringsum. Ein Blick in fremde Leben.

Vier lange Tische mit Holzhockern verleihen dem Raum die Atmosphäre einer Schulmensa, mit Teegeschirr und Samowaren, in denen Wasser unter Teekännchen köchelt. Statt einem Kreuz hängt ein Tuch an der Wand, weiß mit rotem Blumenornament. Natascha serviert Blinis, russische Pfannkuchen, dazu Piroggen und Salat aus gehobeltem Kraut und Karotten, eine Spezialität der Molokanen. Die Gäste drücken Fotoapparate und Nasen gegen die Fensterscheiben, filmen Natascha, notieren sich Rezepte. Aufregend, im einundzwanzigsten Jahrhundert eine Gemeinschaft zu entdecken, die scheinbar unberührt und voller Geheimnisse ist.

So, wie das Leben von Wassili Nikolajewitsch. Ihn werden die Reisenden nie zu Gesicht bekommen. Zweihundert Meter von Nataschas Haus entfernt, immer der sandigen Straße folgend, sitzt er am Küchentisch und schweigt. Seine zerfurchten Finger umfassen eine zierliche Kaffeetasse mit Blumenornamenten und Goldrand. Sein grauweißer Vollbart und die hellgrünen Augen verleihen ihm eine strenge Würde. Seit der Hochzeit hat er sich nicht mehr rasiert. So wird es geboten, im dritten Buch Mose, dem Levitikon. „Ihr sollt euer Haar am Haupt nicht rundumher abschneiden noch euren Bart gar abscheren.“

Wassili hält sich an Regeln.

Er ist der Dorfälteste von Fioletovo. Als spiritueller Führer steht er der Gemeinde mit Rat zur Seite und leitet den Gottesdienst, der jeden Sonntag in einem der Dorfhäuser stattfindet. Kirchen gibt es keine. Für die Molokanen ist jede Versammlung von Gläubigen eine Kirche. Glaube und Alltag bilden eine Einheit, sagt Wassili. Jedes Hindernis zwischen Gott und Gläubigen wird vermieden, deshalb gibt es weder Priester, noch Kreuze und Ikonen.

In der Küche steht Marina, Wassilis Ehefrau, und hobelt Möhren in eine Schüssel. Herd und Spüle drängen sich neben eine Holzbank und einen Tisch, darauf ein weißes Tischtuch. Wassili wartet, bis das Essen auf dem Tisch steht. Salat und Piroggen, armenisches Lavash-Brot und Käse, dazu russischer Tee. Vor dem ersten Bissen stehen sie auf und beten. „Vater unser im Himmel.“

Am liebsten würde Wassili das Interesse der Welt an den Molokanen ignorieren. „Die Touristen laufen durchs Dorf, fotografieren unsere Häuser, unsere Kinder. Dabei wollen wir einfach in Ruhe gelassen werden.“ Das Problem: Jede Information und jedes Bild im Internet lenkt noch mehr Aufmerksamkeit auf Fioletovo. Doch auch der Versuch, sich der Außenwelt zu verschließen, scheint die Faszination zu steigern.

Nicht nur die Angst, die Welt könnte sich für Fioletovo interessieren, treibt ihn um. Da ist auch die Angst, junge Molokanen könnten sich für das Leben draußen interessieren. Durch die vielen Reisenden kämen sie in Kontakt mit Smartphones, Kameras, Autos, sagt Wassili. Dabei gehöre es zu ihrem Lebenskonzept, genau diese Versuchungen zu beseitigen. Oder zumindest zu minimieren. „Nur wer sich spirituell bildet, findet Gott im Geiste.“

Ein Handy klingelt. Wassili zögert. 

Dann fischt er ein kleines Mobiltelefon, Modell Neunzigerjahre, aus seiner Jackentasche.

Es ist kompliziert.

Handys sind verboten. Eigentlich. Es ist eine Sünde, sie dennoch zu nutzen. Eigentlich. Doch manchmal ist es auch praktisch, ein Handy zu haben. Zum Beispiel, wenn Wassili und Marina mit ihren vier erwachsenen Kindern sprechen wollen. Einer der Söhne lebt in Australien. In einer molokanischen Gemeinde, versichert Marina. Sie telefonieren und schreiben per WhatsApp, teilen ein Stück Alltag, trotz der Distanz. Es sei ja nur ein Mittel zum Zweck. Und der Zweck heiligt die Mittel. Zumindest dieses. Viel größere Sorgen bereiten ihnen die Gefahren, die mit dem Handy verbunden sind, zum Beispiel die sozialen Medien. „Teufelszeug“, nennt es Wassili. Das Internet führe den Menschen in Versuchung, vor allem die Jugend.

Wie sehr dieses Internet die Jugend in Versuchung führt, lässt sich an der Schule beobachten. Sie liegt auf halber Strecke zwischen Wassilis und Nataschas Häusern, in einer Seitengasse. Ein steinerner Flachbau mit zwei Etagen, Blüte der Sowjetarchitektur.

Die Flure sind leer. Durch die geschlossenen Türen dringen Stimmen in den Gang. Im Treppenhaus, auf den unteren Stufen, stehen fünf Jugendliche. Aus einem Smartphone scheppert russischer Pop. Die Jungen lässig in Jeansjacke, die Mädchen mit langen Pferdeschwänzen, die Röcke knapp genug, um die Knie zu entblößen. Der Stoff ist enganliegend. Kleine Fluchten.

Das mit dem Internet, das sei so eine Sache, sagen sie zögerlich, fast schüchtern. Darauf verzichten möchten sie auf keinen Fall. Aber ihre Zeit begrenzen, den Computer nur für Schulaufgaben nutzen. Studieren wollen sie nicht. In der Schule und von den Eltern würden sie alles lernen, was sie fürs Leben brauchen. Zumindest für ein Leben in Fioletovo. Und wegziehen, das kommt für sie nicht in Frage.

Für Molokanen kommt die beste Bildung von Gott. „Die Eltern wollen nicht, dass ihre Kinder an die Universität gehen. Zu groß ist die Angst, sie zu verlieren“, sagt Margarita Ananyan, 38. Seit dreizehn Jahren unterrichtet sie Mathematik, Lesen, Geografie, Armenisch. Aufgewachsen ist sie im zwanzig Kilometer entfernten Wanadsor. Anders als die Frauen im Dorf trägt sie Hosen, die langen Haare unbedeckt. Nur ihre Kette mit Kreuzanhänger, die versteckt sie unter der Bluse. Beide Seiten respektieren, wie sie ihren Glauben leben. Doch nicht immer kann Margarita Verständnis aufbringen: Ältere Kinder müssten oft zuhause aushelfen, im Stall und auf dem Feld, die Mädchen würden jung schwanger. In der Schule sprechen sie nur Russisch. Armenisch ist für Molokanen wie eine Fremdsprache. Auch das erschwere den Zugang zur Außenwelt, zu höherer Bildung. Die Molokanen sehen das anders: Es stärkt den Gemeinschaftssinn.

Vor Nataschas Haus hält erneut ein Reisebus. Eine Gruppe aus Norwegen steigt aus. Für Natascha und Mikhail ist es der vierte Durchlauf an diesem Tag. Sie arbeiten routiniert, beinahe stoisch. Er trägt die Teekocher in den Hof, holt die Asche heraus, putzt das Gefäß, heizt neu. Dann sammelt er die Eier aus dem Hühnerstall und die Kartoffeln vom Feld. Natascha tischt auf, räumt ab, tischt wieder auf. In der Küche stapeln sich Teller, Pfannen, Töpfe. Noch bis spät in den Abend wird sie spülen, so lange, bis ihre Hände vom heißen Wasser aufgeweicht und runzelig sind. 

Angefangen hat alles bescheiden, als Nebenverdienst. Reisende, die in Fioletovo eine Pause machten, tranken Tee in ihrer Stube. Ein Reiseführer erkannte die Marktlücke und schlug dem Ehepaar einen Deal vor: Er bringt die Gruppen ins Dorf, sie kochen traditionelles Essen. Natascha kämpfte damals mit gesundheitlichen Problemen, konnte nicht mehr auf dem Feld arbeiten, das Geld reichte nicht zum Leben. Sie stellte ihren Plan bei der Dorfversammlung vor. Alle Entscheidungen werden basisdemokratisch getroffen. Einige der Anwesenden grummelten, erzählt Natascha, doch keine der Stimmen wurde laut. Arbeit hat einen hohen Stellenwert in der Gemeinde.

Erst war es nur der Hinterhof. Dann wurden die Gruppen größer, sie bauten einen Wintergarten. Vergrößerten den Wintergarten. Irgendwann war es ein Selbstläufer. Natascha deutet auf eine Schachtel neben dem Eingang. Darin kleine Magneten für den Kühlschrank mit den bunten Häusern Fioletovos. Ihr Sohn hat sie entworfen. Gibt’s für 1500 Dram pro Stück, knapp drei Euro.

Nachdem die Gäste das Haus verlassen haben und die Küche geputzt ist, stellt sie die letzte Teetasse zurück in die Vitrine. Am Abend, wenn die Sonne sich senkt und das Tageslicht schwindet, wird sie einen schneeweißen Internetrouter hervorholen, wird das Kabel in die Steckdose stecken und die zwei kleinen Antennen gen Himmel richten.

Die Geschichte hinter der Geschichte

Die armenischen Kolleg*innen warnten Frieda: Die Molokanen seien verschlossen, der Zugang zur Gemeinde schwierig. Vier Tage und zwei Nächte verbrachte Frieda im Dorf, klopfte an Türen und versuchte, Vertrauen zu den Menschen aufzubauen. Einige wiesen sie ab, andere baten sie herein unter der Bedingung, weder Fotos noch Audiomitschnitte zu machen. Daran hielt sich die Reporterin – und war in diesen Momenten besonders froh, mit einer armenischen Kollegin unterwegs zu sein. Die beiden Journalistinnen verglichen Zitate und Eindrücke, hinterfragten einander und sicherten sich gegenseitig ab. Einige der Fotos im Artikel stammen von der armenischen Fotografin Nelli Sishmanyan, die viel Zeit im Dorf verbrachte und schließlich fotografieren durfte.

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