Ein Jahr nach der samtenen Revolution machen ArmenierInnen von ihren Bürgerrechten Gebrauch: Ein Dorf spaltet sich am Bau einer Goldmine.
Text: Ruth Fulterer Mitarbeit: Anahit Minasyan . Fotos: Narek Alesanyan, Ruth Fulterer, Anahit Minasyan
Einst war Jermuk das Baden-Baden Armeniens. Dann fiel gelber Schnee. Jetzt fürchtet Gerasim Musheghyan um die Zukunft seiner Kinder.
Er steht mit anderen Männern in einer Containerhütte am Straßenrand. Einer serviert Kekse und Instantkaffee in Plastikbechern. In dem Container gegenüber liegen drei Pritschen mit teppichschweren Decken und Armeeschlafsäcken. Darin haben sie den Winter überstanden, Tag und Nacht ausgeharrt, schichtweise, immer zumindest zu zweit, blockieren sie die Zufahrten zu einer Goldmine, die ihr Wasser vergiften könnte, ihre Böden verseuchen, ihre Heimat zerstören.
Gerasim ist Anfang 40, beim Sprechen zieht er oft die Schultern hoch und scahut in die Ferne, Stirn gerunzelt, Augen zusammengekniffen, als blinzelte er in die Sonne. Wie alle trägt er dunkle Jacke und trotz der aufgeweichten Schotterpiste schwarze Schuhe aus zartem Leder.
Die Männer sind noch nicht lange Aktivisten. Dass sie es wurden, hat mit ihrer Angst zu tun, und mit der Revolution, die Armenien vor einem Jahr bewegt hat. Sie sind aufgeregt. Bald wird sich herausstellen, ob ihr Kampf Sinn ergibt.
„Ich will meine Heimat beschützen“, sagt Gerasim. Von der Minenzufahrt bis dieser Heimat sind es ein paar Kurven den Berghang entlang. Dort liegt Jermuk, ein Städtchen, das man in den Sechzigern zum Vorzeigekurort der Sowjetunion ausgebaut hat. Im Ort sprudeln warme Quellen, eine Firma füllt Mineralwasser ab. Durch die Stadt geht eine Felsschlucht, an der ein gigantisches Plattenbauhotel thront, so knapp am Rand, als möchte es jeden Moment in den Abgrund stürzen. In vielen Fenstern der industriell-geometrischen Fassade fehlen die Scheiben. Das Hotel steht leer, wie viele Gebäude des Ortes. Zwar kommen noch Touristen, aber seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion nicht mehr genug, um all die überdimensionierten Anlagen am Laufen zu halten.
Es gibt wenig Arbeit. Gerasim hat Ökonomie studiert, aber die Familie mit den drei Kindern bringt er mit Jobs am Bau durch. Früher fuhr er Taxi, ein Zähler im Rückspiegel seines weißen Ladas erinnert daran. Wie viele hatte er gehofft, die Mine würde Aufschwung bringen. „Damals wusste ich noch nichts darüber.“ Jetzt fühlt er sich durch sie bedroht.
Anna* glaubt an die Mine. Sie empfängt uns in einem Häuschen an der Hauptstraße im Büro der Betreiberfirma Lydian International und setzt sich an einen ovalen Konferenztisch, der das Zimmer beinahe ausfüllt. In einem Drehständer stecken Prospekte in Armenisch und Englisch mit dem Löwenkopf, auf denen „Nachhaltigkeitsbericht“ steht und „Maßnahmen zur Wiederherstellung der Lebensgrundlage“. Die Nebenräume stehen leer.
Anna ist die einzige aus dem Ort, die noch für die Minenfirma arbeitet. Sie will für die Befürworter sprechen, ihren richtigen Namen aber nicht veröffentlicht sehen. „Auf der Straße zischen sie mir schlechte Dinge nach“, sagt sie und dreht an den breiten Glitzerringen an ihren schmalen Fingern. In der patriarchalen Kultur dieser Dörfer offen eine Frau zu beleidigen, ist ein Tabubruch. Ihre Tochter komme bedrückt aus der Schule, weil es dauernd um die Mine gehe, und was die Firma alles falsch mache. Wenn sie ehemalige Freunde trifft, grüßen beide Seiten knapp. Anna spricht fließend Englisch, sie fand einen guten Job bei Lydian. „Die Bezahlung kann man nicht mit dem Verdienst im Tourismus vergleichen. Zum ersten Mal seit langem kam Geld in den Ort, das spürten auch die Ladenbesitzer.“
Lydian International sitzt in der Steueroase Jersey. Investoren kommen aus Großbritannien, Kanada, den USA. Aber auch deutsches Steuergeld floss in den Bau der Mine: Die Europäische Bank für Wiederaufbau und Entwicklung finanziert das Projekt. Die Firma Lydian spricht von einem win-win Projekt, schließlich würde die Firma, wenn sie erst beginnen könnte, das Gold zu fördern, zu den fünf größten Steuerzahlern des Landes gehören.
Der Berg, aus dem Gold gemacht werden soll, heißt Amulsar, übersetzt: unfruchtbarer Berg. Das sieht Gerasim anders: Für ihn ist es der Berg, wo er als Kind die meisten Pilze gefunden hat. Er hat seinen Lada auf eine Anhöhe gezwungen, um das Panorama in seiner ganzen Pracht vorzuführen. Blümchen und Flechten bedecken den Boden. Mittendrin rußt eine Feuerstelle. „Hier macht jede Abschlussklasse aus unserem Ort ein Lagerfeuer“, erzählt er. Hinter der Stadt thronen schneebedeckte Berge, zu einem davon führt ein neugebauter Skilift, auf dem anderen steht, knapp unter dem Gipfel, ein kastenförmiges Gerüst: In dieser Anlage sollen die abgetragenen Steinbrocken pulverisiert werden.
Die Mine scheint weit weg, aber schon ihr Bau brachte bei Regen Staub bis in die Stadt und färbte den Schnee gelb. Auch die Arbeiter hätten dafür gesorgt, dass die Mine im Ort zu spüren gewesen sei, meint Gerasim, die Männer mit Helmen hätten die Touristen verschreckt. Den Steinbruch auf dem Berg besuchte er bei einem Berufstraining der Firma. Unten habe man die Teilnehmer angehalten, nicht die Wiese zu betreten. „Aber oben gab’s gar keine Wiese mehr, nur noch aufgegrabene Erde. Nach diesem Training bin ich nicht wieder hin.“
„Noch nie habe ich ein Unternehmen so bedacht arbeiten sehen“, erzählt Anna: „Beim Berufstraining haben sie weiß-rote Bänder gespannt, um die Wiese zu schützen. Wer trotzdem auf die Pflanzen getreten ist, den haben sie ermahnt.“ Anna ist bei Lydian für Entwicklungsprojekte zuständig. Gold, Kupfer und andere Erze machen ein Viertel der gesamten Exporte Armeniens aus. An fast 500 Stellen wird geschürft. Die Lizenzgebühren dafür gehören weltweit zu den niedrigsten, das macht den Bergbau für ausländische Firmen attraktiv. Seit 2012 müssen Minenfirmen in Entwicklungsprojekte vor Ort investieren. Lydian hat Wasserleitungen reparieren lassen und Workshops für den Bau von Gewächshäusern und Recycling organisiert. Dort lernen Teilnehmer beispielsweise, Körbchen aus alten rosa Plastiktüten zu flechten.
Als Lydian mit dem Erschließen der Mine begann, formierte sich Widerstand. AktivistInnen aus Jerevan kamen in die Stadt und informierten die BewohnerInnen über die Gefahren der Mine. Um aus dem pulverisierten Erz Gold zu gewinnen, wird Cyanid verwendet, eine Blausäureverbindung. Zurück bleibt giftiger Schlamm. Sollte bei starkem Regen ein Damm überlaufen oder eine Dichtung nicht halten, könnte Gift bis ins Grundwasser und in den Fluss sickern, der noch weit talabwärts Felder und Weinberge mit Wasser versorgt. So ist es im Jahr 2000 in der rumänischen Goldmine Baia-Mare geschehen. Massenhaft giftiger Schlamm überflutete die Gegend, gelangte in die Donau, bis heute leiden die Menschen dort unter den Folgeschäden.
Lydian versichert, man halte alle Umweltstandards ein, doch die AktivistInnen sehen wenig Grund, der Firma zu vertrauen. 2018 erst machte die große Kupfermine Teghut vorzeitig dicht, nachdem ihr Schlamm einen Fluss verschmutzt hatte. Immer wieder bestätigen Untersuchungen, dass armenische Minen Böden und Menschen mit Schwermetallen belasten – das Krebsrisiko ist in diesen Gegenden erhöht.
Die Argumente der Umweltschützer überzeugten viele Dorfbewohner, aber nur einige der Jüngeren gingen mit ihnen auf die Straße. Die Polizei zerstreute die Proteste, nahm Teilnehmer für Stunden oder Tage fest. Auch dem Familienvater Gerasim schien das Risiko ursprünglich zu groß.
Dann kam die Revolution.
Proteste hatte es in Armenien immer wieder gegeben – aber diesmal war es anders. Täglich gingen mehr Menschen auf die Straßen, bald waren es Hunderttausende auf dem Platz der Republik in Jerewan. Bilder von Männern und Frauen, jung und alt, in armenische Flaggen gehüllt auf den Straßen, grillend, tanzend, sie erreichten auch Jermuk, auch Gerasim. Er ging auf die Straße, schloss sich den Kolonnen hupender Autos an. „Es hat alles verändert: Mein ganzes Leben war ich unfrei. Plötzlich zählten unsere Rechte.“ Kurz darauf blockierte er mit anderen Männern die Straßen zur Mine.
Als sich die Blockade über Monate hinzog, musste Lydian Angestellte entlassen. Annas Stelle wurde auf Teilzeit reduziert. Viele sind weggezogen. Anna und ihr Mann hatten einen Kredit aufgenommen, um das Studium der Kinder und eine Wohnung in der Hauptstadt zu finanzieren. „Die zehn, zwanzig Jahre, die die Mine bleiben soll, wären genug, um unsere Schwierigkeiten zu überwinden“, sagt sie. Das Argument, der Tourismus sei bedroht, lässt sie nicht gelten. Der Ort hätte genug Zeit gehabt, sich touristisch zu entwickeln – aber die Chance nicht genutzt. Außerdem könnten Touristen doch die Mine besichtigen. „Ich würde mir sowas im Urlaub gerne anschauen“, sagt sie.
Bald wird sich herausstellen, ob sie den Job behalten kann, der ihre Zukunft sichern soll. Die neue Regierung hat aufgrund der Proteste Experten der internationalen Firma ELARD beauftragt, das Umweltgutachten von Lydian zu prüfen. Vom Ergebnis hängt ab, ob die Mine in Betrieb gehen kann oder nicht.
„Vorher wollen wir nochmal ein Zeichen setzen“, sagt Arpine Galfayan, Aktivistin der Umweltbewegung „Armenian Environmental Front“. Am Platz der Republik in Jerevan scheucht sie Demonstranten und Presseleute in Busse. Es ist Samstagmorgen. Die Fahrt geht nach Jermuk. Im Bus werden Snacks gereicht, manche quatschen, manche dösen, Arpine und ihre Aktivistenfreunde sprechen hin und wieder ins Mikro, zitieren Fachleute, die das Umweltgutachten der Firma anzweifeln. Auf halber Strecke schließen sich Fahrzeuge aus Jermuk den Bussen aus der Stadt an. Etwa 200 Autos tuckern die restlichen fünfzig Kilometer Kurvenstraße in einer hupenden Schlange hoch, in einem davon Gerasim.
Aus offenen Fenstern strecken sich Männer, Kinder, Frauen, sie rufen und winken, schwenken die rot-blau-orangene Armenienflagge. Am frühen Nachmittag parken die Autos am Rand einer Tannenallee in der Stadtmitte Jermuks. Auf dem Hauptplatz, einer breiteren Kreuzung, steht ein Lastwagen, die Ladefläche zur Bühne umgebaut. Unter die DorfbewohnerInnen mit ihren dunklen Lederjacken mischen sich AktivistInnen mit bunten Pullis und Schals und Brillen mit dickem Gestell. „Rettet Amulsar“, steht auf den Plakaten. Und „Fuck Corporations, save the planet.“
Gerasim streift durch die Menge, macht Fotos mit dem Handy. Er erzählt von der Klage, die gegen ihn läuft. Es gibt ein Video, auf dem er sagt, die Firma habe die vorherige Regierung bestochen. Er gibt sich unbesorgt, er stehe ja nicht allein in diesem Kampf. Um ihn herum wuseln zwei seiner Kinder mit Armenienflaggen, sie spielen mit neuen Freunden aus der Hauptstadt. Aus Lautsprechern dröhnt Musik, ein Song über den Berg Amulsar. Ein paar Kinder tanzen Ringelreihen.
Teilnehmer erzählen von der Ansage des Premierministers Nikol Pashinjan, der auf Lydians Ankündigung, eine Klage wegen entgangener Gewinne in Betracht zu ziehen, sagte: „Warum sollte ich vor dem Schiedsgericht Angst haben? Die sollten Angst haben.“
Was aber, wenn die Umweltexperten den Minenbetreibern Recht geben und die Erlaubnis, weiterzumachen?
Gerasim sagt: „Ich werde weiterkämpfen, um meine Heimat zu schützen.“
Anna sagt: „Ich vertraue auf die Experten. Und bin einfach froh, wenn diese Auseinandersetzung vorbei ist.“
Nachtrag: Monate später ist es immer noch nicht so weit. Die Umweltprüfer von ELARD veröffentlichten einen Bericht, der auf einige Risiken hinweist. Trotzdem wollte die Regierung zuerst weiterschürfen lassen. Große Proteste in der Bevölkerung führten dazu, dass die Entscheidung noch einmal überdacht werden soll, und die Umweltrisiken noch einmal überprüft.
Die Geschichte hinter der Geschichte
Ruth fühlte sich in Armenien etwas ausgeliefert, der Sprachbarriere wegen. Ihre Übersetzerin war auch Kulturvermittlerin: Sie erklärte, dass es unhöflich wäre, eine Einladung des Protagonisten anzunehmen, falls er sie nicht ein, zwei Mal wiederholte. Tat er nicht. Dabei hätte sie so gerne gesehen, wie er wohnt.
Bei der Recherche musste Ruth nicht nur immer wieder an den Relotiusskandal denken, sondern auch Statements zum Thema in die Kamera sagen: Der NRD begleitete sie bei der Recherche für das Medienmagazin ZAPP. Es entstand ein Beitrag, der zeigt, wie sich die Recherche für junge Journalisten nach dem Skandal verändert hat.